Performance-Künstlerin Marina Abramovic:"Fuck them!"

"Der Westen hält Marina Abramovic für eine wichtige Künstlerin. Aber wir fragen uns, ob das Kunst ist oder eine Zirkusnummer": Bob Wilson inszeniert auf dem Manchester International Festival die Geschichte der serbischen Performance-Künstlerin. Diesmal darf sie weder unaufgefordert weinen noch bluten.

Alexander Menden

Ich muss einen Witz erzählen", sagt Marina Abramovic. "Ein Engländer, ein Schotte und ein Ire werden von Kannibalen gefangen, die ihnen sagen: 'Wir fressen euch und machen aus euren Häuten Kanus.' Die drei haben einen letzten Wunsch frei. Der Engländer will eine Zigarre, der Schotte einen Whisky. Beide werden zu Kanus verarbeitet. Der Ire will eine Gabel. 'Wozu das denn?', fragen die Kannibalen. Der Ire zerlöchert sich mit der Gabel die Brust und sagt: "Ihr macht kein verdammtes Kanu aus mir!" Marina Abramovic lacht, noch bevor der Witz zu Ende ist: "Ich finde das herrlich, das ist so physisch!"

Das Interesse der Performance-Pionierin Abramovic an solch einer bizarren Thematik überrascht nicht. Die Belastung und Versehrung des menschlichen Körpers ist ja zentral für ihre eigene Kunst. Man denke an die Aktion, für die sie sich in einen Stern aus brennendem Sägemehl legte und fast erstickt wäre. Oder an "The Artist is present", eine Arbeit, für die sie vergangenes Jahr bei einer Retrospektive im New Yorker Museum of Modern Art 736 Stunden lang bewegungslos auf einem Stuhl verharrte. Oder an "Luminosity": eine nackte Frau sitzt, grell ausgeleuchtet, auf einem in zwei Metern Höhe an der Wand befestigten Fahrradsitz. Arme und Beine sind abgespreizt; ihr Gewicht ruht nur auf dieser kleinen Fläche. Es wirkt wie eine Kreuzigung, und sieht ähnlich schmerzhaft aus. Abramovic führte die Arbeit erstmals 1997 in Berlin vor. Damals saß sie selbst sechs Stunden am Stück im Sattel. "Luminosity" ist Abramovics Beitrag zu "11 Rooms".

Bei der von Hans-Ulrich Obrist und Klaus Biesenbach kuratierten Schau, die im Rahmen des Manchester International Festival (MIF) in der Manchester Art Gallery stattfindet und im kommenden Jahr bei der Ruhr-Triennale 2012 im Essener Museum Folkwang gastiert, stellen elf Künstler Werke aus, in deren Zentrum der Körper steht. Bei Abramovics Arbeit teilen sich zehn Frauen in Halb-Stunden-Schichten die Bürde. Trotz der verkürzten Zeit ist ihnen die Qual anzusehen, wenn das Blut sich in ihren Beinen staut und die starren Gesichter sich mit einem Schweißfilm überziehen. Transzendenz durch Leiden, das ist Abramovics Thema. Sehr physisch, sehr intensiv. Aber nicht unbedingt lustig, denkt man.

Dass Abramovic Witze erzählt, liegt also weniger nahe, wenn man ihr nur in ihren Arbeiten begegnet ist. Man stellt sich eine strenge, wenn nicht angsteinflößende, eher wortkarge Person vor, bei der es immer um die letzten Dinge geht. Doch während sie an einem sonnigen Julimorgen im Frühstücksraum ihres Hotels in Manchester sitzt und Spiegeleier in sich hineinschaufelt, sprudelt die Sechsundsechzigjährige mit dem schwarzen Haar und dem bemerkenswert faltenlosen Gesicht nur so über vor Anekdoten. Auch nach zehn Jahren in New York spricht sie mit schwerem serbokroatischem Akzent und schweift ständig ab.

Gerade noch hat sie von den Proben zu "The Life and Death of Marina Abramovic" berichtet, ihrer zweiten Arbeit beim diesjährigen MIF, für die sie sich in die Hände des Theaterregisseurs Bob Wilson begeben hat. Im nächsten Augenblick zählt sie einige zentrale Punkte ihres "altmodischen Künstlermanifests" auf, das sie vor zwei Jahren aufsetzte. In Wilsons Produktion wird der phänomenale Willem Dafoe diese Forderungen inmitten eines akribisch choreographierten Pandämoniums aus wehenden Partisanenflaggen und altserbischen Klagegesängen durch ein Megaphon bellen: "Ein Künstler darf sich nicht dem Markt beugen! Ein Künstler darf sich nicht in andere Künstler verlieben! Ein Künstler darf keinen anderen Menschen töten!" Und was ist mit Caravaggio? "Na gut", räumt Abramovic ein, "Caravaggio war ein Künstler, obwohl er jemanden umgebracht hat. Da hat er eben Mist gebaut."

Die Forderung, sich als Künstler niemals in einen anderen Künstler zu verlieben, entspringt leidvoller, wenn auch produktiver Erfahrung: Marina Abramovic lebte mehr als 20 Jahre in einer Beziehung mit dem deutschen Performance-Künstler Ulay. Als sie sich 1988 voneinander trennten, war natürlich auch das eine Performance. Beide bewegten sich 90 Tage lang auf der Chinesischen Mauer aufeinander zu, um sich schließlich zu treffen und zu verabschieden. "Ich war 40, ich hatte die Person verloren, die ich liebte und war deprimiert", erinnert sich die Künstlerin. "Aber ich glaube nicht an Psychoanalyse. Also wendete ich mich, um die nötige Distanz zu bekommen, dem Theater zu. Dabei muss man das Theater als Performance-Künstler eigentlich hassen, es ist unser Feind, nichts ist echt. In der Performance ist alles echt."

Trotz dieser Feindschaft hat sie seit 1989 bereits sechs Regisseuren angetragen, ihr Leben auf der Bühne zu inszenieren. "Ich gebe ihnen das Material, alle meine Aufzeichnungen, und sie tun damit, was sie wollen." Es sei für sie, bei deren Arbeit es so sehr um Selbstkontrolle gehe, eine gute Erfahrung, die Kontrolle abzugeben, sagt sie. Zuletzt reproduzierte der belgische Choreograph Michael Laub unter dem Titel "Biography Remix" einige ihrer Arbeiten szenisch. Bei der jüngsten Dramatisierung, "The Life and Death of Marina Abramovic", führt nun der Hohepriester theatraler Künstlichkeit Regie: "Bob Wilson hat alle Realität herausgenommen", sagt Abramovic. "Bisher waren in allen Inszenierungen Performance-Elemente enthalten, wenn ich mich verletzte, blutete ich also wirklich. Bob will davon nichts wissen. Bei den Proben musste ich an einer Stelle immer weinen, was wegen des dicken Make-ups eine Katastrophe ist. Bob sagte: 'Du kannst doch nicht auf der Bühne weinen. Das Publikum weint, nicht du!'"

Die Stelle ist einer der dramatischen Höhepunkte der Produktion im Lowry Theatre: Abramovic sitzt auf einem weißen Bett (sie verbrachte als Kind ein Jahr im Krankenhaus, das "schönste Jahr meines Lebens"), das Gesicht in Wilson-Manier weiß geschminkt, eine Puppe mit ihrem eigenen Gesicht auf dem Schoß. Antony Hegarty, Sänger von "Antony and the Johnsons", der mit dem Ambient-Vorreiter William Basinski die Musik komponiert hat, tritt in einem schwarzen Kleid an die Rampe. Und singt in seinem tremolösen Falsett ein düsteres Schlaflied. Es ist einer dieser Wilson-Momente, die man, mit ihrer ausgeklügelten Hintergrundbeleuchtung und Jacques Reynauds schimmernden Kostümen, schon oft gesehen hat. Und die doch, wenn die Darsteller die notwendige Intensität und Präzision mitbringen, zum Wunderbarsten gehören, was Theater sein kann: Ein Moment, der trotz Starre und stilisierter Distanziertheit im Herzen wühlt.

Körperverletzender Humor

Bob Wilson zitiert kaum das eigentliche Werk Marina Abramovics. Die von Hunden umstreunten Knochen, die eingangs auf der Bühne liegen, sind noch der expliziteste Verweis auf eine Arbeit - "Balkan Baroque", bei der sie einen Haufen blutiger Knochen putzte, und die 1997 den Goldenen Löwen der Biennale in Venedig gewann. Im Vordergrund steht die Biographie, speziell die Jugend, der 1946 in Belgrad geborenen Künstlerin. Ihre Eltern waren ranghohe Apparatschiks in der jugoslawischen Tito-Regierung. "Der Kommunismus ist ein ehrliches System", sagt Abramovic. "Man weiß, woran man ist: Du erzählst einen politischen Witz und kommst ins Gefängnis." Im Zweiten Weltkrieg hatten ihre Eltern als Partisanen gekämpft. Später bekämpften sie vor allem einander - und ihre Tochter. Je mehr fürchterliche Episoden man aus Marinas Leben hört und sieht, desto klarer wird, warum sie so fixiert ist auf das Durchstehen von Schmerzen.

Zum Beispiel die Geschichte von der Waschmaschine, in deren Trommel sich der Arm der kleinen Marina verfing, als die Mutter nicht zu Hause war. Die Großmutter rief einen Mann, der den gequetschten Arm herauszerrte. Die heimkehrende Mutter gab ihr erstmal ein paar Ohrfeigen, bevor sie sie ins Krankenhaus fuhr. Wilson hat diese Episode in seiner patentierten Mischung aus Slapstick und Stummfilm-Mimik eingerichtet: Der zierliche Darsteller Carlos Soto steckt in einem Mini-Maus-Kleid; er reißt Mund und Augen auf, während sein Arm in die Waschmaschine gezogen wird und aus dem Off Kinderweinen ertönt. Genau der körperverletzende Humor, über den Marina Abramovic herzlich lachen kann.

Was diese Produktion über zahlreiche schematische Routinearbeiten des Regisseurs aus den letzten Jahren hinaushebt, ist zunächst Willem Dafoes Tour de Force als maliziöser Abramovic-Biograph. Er ist einer der wenigen amerikanischen Filmstars, die das Theater für eine dem Kino ebenbürtige Kunstform halten. Und er ist eine Naturgewalt auf der Bühne: Mit steil zu Berge stehendem Haar, umgeben von Papiergebirgen, schnurrt, knurrt und krächzt er sich durch zahllose Details aus Abramovics Leben. Rast die Bühne auf und ab, kriecht durch Trockeneisnebel und tanzt zwischendurch im Chor mit.

Und dann ist da Marina Abramovic selbst, eine statuarische Bühnenerscheinung. Die Gegenwart jenes Menschen, aus dessen Leben sich das ganze Stück speist, gibt dem Abend eine seltsam authentische Qualität. Zugleich macht sie das Ganze zu einem komplexen Vexierspiel: Abramovic ist sie selbst, spielt sich selbst und ihre eigene Mutter, "das größte Problem in meinem Leben", wie sie sagt. Diese Mutterfigur stakst wie eine Vampir-Domina mit hoch getürmter Frisur durch Wilsons Welt. Meist präsentiert der Regisseur Abramovic allerdings in starren Posen: Als Partisanin auf dem Rücken eines Steckenpferdes, als hingelagerte Diva in Rot, als Leiche. Und obwohl sie offenkundig keine Schauspielerin ist, geht von ihr eine performative Energie aus, die sie jedes Mal, wenn sie auftritt, zum Zentrum der Aufmerksamkeit macht.

Abramovic wünscht sich nach ihrem Tod drei Begräbnisse: "Zwei falsche Marinas und ich selbst, verteilt auf drei Gräber in Belgrad, Amsterdam und New York. Eine Feier des Todes." Diese Feier richtet Wilson auf der Bühne bereits für sie aus: Im Schlusstableau schwebt sie, gemeinsam mit zwei maskierten Doubles, in überlangen Leichenhemden dem Bühnenhimmel zu. Das bleibt so eben noch diesseits der Kitschgrenze, und ist gerade deshalb nicht banal, sondern ein emotionaler Triumph.

"The Life and Death" beweist, ebenso wie die letztjährige MoMA-Schau, dass Marina Abramovic da angekommen ist, wo sie mit ihrer Kunst immer sein wollte: beim großen Publikum. Und doch ist sie, die Selbstverletzerin, noch immer verletzlich. Der Frühstückstisch ist schon abgeräumt, da erinnert sie sich an einen Artikel, der jüngst in einer serbischen Zeitung erschien: "Da stand: 'Der Westen hält Abramovic für eine wichtige Künstlerin. Aber wir fragen uns, ob das Kunst ist oder eine Zirkusnummer.'" Sie macht eine kleine Pause. "Und das nach 48 Jahren Arbeit. Fuck them!"

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