Paul Sethe(XLIII):Der Seher

SZ-Serie "Aufmacher" (XLIII): Paul Sethe, ein Konservativer, nahm Brandts Ostpolitik vorweg.

STEFAN FISCHER

Früher waren selbst Leserbriefe im Spiegel von hohem Erkenntniswert. "Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten" - kaum ein Satz wird häufiger zitiert, wenn es um die Pressefreiheit geht, als dieses Bonmot des Publizisten Paul Sethe, das am 5. Mai 1965 in dem Nachrichtenmagazin zu lesen war. Dort hieß es auch: "Da die Herstellung von Zeitungen und Zeitschriften immer größeres Kapital erfordert, wird der Kreis der Personen, die Presseorgane herausgeben, immer kleiner. Damit wird unsere Abhängigkeit immer größer und immer gefährlicher." Er wisse, das es im deutschen Pressewesen Oasen gebe, "in denen noch die Luft der Freiheit weht, . . . aber wie viele von meinen Kollegen können das von sich sagen?" Am gleichen Ort stellte Sethe noch fest: "Ich bin nicht links."

Man hat ihn wahlweise für einen Linken, Nationalen, Konservativen oder Rechten gehalten, jenen Mitgründer der Frankfurter Allgemeinen, der gern über das Lagerdenken spottete und sich liebend gern einmischte. Weil er mit der Außenpolitik Konrad Adenauers über Kreuz lag, hat ihn der Altkanzler einen "Bolschewistenfreund" genannt. Dass man gegen Adenauers Westbindung sein konnte und dennoch ein Konservativer war - das begriff der Kanzler nicht. Paul Sethe war ein Verfechter vernunftgeleiteter Politik, die sich nicht an Ideologien oder Utopien ausrichtet. Ihn verführte und leitete der Gedanke der Staatsräson.

"Unbequem, aber nicht anstößig" sei Sethe, schrieb Günter Gaus 1962 in der SZ. Sein Porträt des Journalisten eröffnete damals eine Serie mit dem Titel "Außenseiter". Als herrisch und verletzlich galt Sethe, als impulsiv und zugleich nachdenklich, ja schwermütig. Er konnte nicht hassen, und dies sei seine größte Schwäche gewesen, bemerkte Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein.

Mit dem politischen Betrieb hat sich Sethe nie gemein gemacht, dieser "Doyen des deutschen Journalismus", wie Stern-Gründer Henri Nannen seinen Mitarbeiter nannte. In einem letzten Brief an Nannen vom Juni 1967 erläuterte Sethe, dass nur eine kleine Koalition aus SPD und FDP "eine Wende in der Außen-, Militär- und Wirtschaftspolitik bringen" könne - zwei Jahre, bevor die beiden Parteien tatsächlich zueinander fanden. Auch witterte er damals eine mächtige neue Kraft: Ob es möglich sei, "aus Gesprächen mit Studenten klarzubekommen, woher die Gärung kommt und wohin sie zielt? Vielleicht ist die Frage nicht zu beantworten; wenn es gelänge, wäre es ein schönes Verdienst für den Stern". Er war ein Seher. Die Apo hat Sethe nicht mehr erlebt. Er hatte sich aufgemacht, "mit einem Körbchen Erdbeeren in der Hand", so Nannen, um den Zeit-Kollegen Kurt Becker, den späteren Regierungssprecher Helmut Schmidts, im Krankenhaus zu besuchen. Dort brach er am 21. Juni 1967 tot zusammen.

Paul Sethes journalistische Form war der Leitartikel, seine Welt war die des Bürgertums. Augstein zitierte aus einem Brief Sethes an ihn: "Ich kann Ihnen das Resultat sorgfältiger Prüfung meiner Finanzlage nicht ersparen: Ich bekomme noch 50 Mark von Ihnen, Abendessen bei Randel. Es eilt nicht, aber ein kleiner Angestellter muss sehen, dass solche Dinge nicht in Vergessenheit geraten."

Schon früh war der 1901 in Bochum geborene Sethe mit dem Journalismus in Berührung gekommen. Sein Geschichtsstudium unterbrach er für eine Redakteursstelle im rheinischen Ohligs, dann aber promovierte er doch über die britische Flottenführung von 1911 bis 1915. 1934 war er bereits politischer Alleinredakteur der rheinischen Provinzzeitung. Dort habe er sich, wie Gaus schilderte, in einem Brief an die Frankfurter Zeitung derart unvorsichtig über das NS-Regime geäußert, dass ihn deren Redaktion sogleich aufgenommen habe, damit der mutige Journalist nicht in die Hände der Gestapo falle. Sethe selbst hat später Ähnliches für andere getan, etwa für die als Meinungsforscherin bekannt gewordene Elisabeth Noelle-Neumann. Die Frankfurter Zeitung versuchte - bis zu ihrem Verbot im August 1943 - ein Hort aufrechter Gesinnung zu bleiben. Doch diente sie dem Regime auch als Feigenblatt. Sethe selbst schrieb mitunter Elogen auf Hitler ("der große Einiger der Nation"); sein dortiger Chefredakteur Erich Welter erklärte später, mancher Artikel sei notgedrungen eine Kompensation für kritische Anmerkungen an anderer Stelle gewesen. Nach dem Verbot wurde Sethe vom Völkischen Beobachter dienstverpflichtet. Zuerst wurde er mit der Leitung des Frankfurter Anzeigers betraut, wo er etliche Durchhalteartikel veröffentlichte. Im Frühjahr 1944 wechselte er in die Berliner Redaktion des Völkischen Beobachters; seine Texte wirkten vergleichsweise sachlich.

Der Neubeginn nach 1945 führte Sethe schnell zur Allgemeinen Zeitung nach Mainz, einer Keimzelle der Frankfurter Allgemeinen, zu deren fünf Gründungsherausgebern Sethe 1949 gehörte. Er wurde dort allerdings nicht glücklich und verließ bereits 1955 das Blatt wieder - ein Eklat. Mit den Mitherausgebern hatte er sich vor allem über Adenauers Außenpolitik gezankt. Das war Sethes großes Thema: Er opponierte gegen den Kanzler, der der Westintegration der jungen Bundesrepublik im Zweifelsfall immer den Vorrang gab vor einer baldigen Wiedervereinigung. Sethe warf ihm vor, sich von einer Ideologie - dem Antibolschewismus - und nicht von der Staatsräson leiten zu lassen. Der Publizist hielt es für dringend geboten, mit den Sowjets zu verhandeln - im Grunde nahm er Willy Brandts Ostpolitik vorweg.

Seine Überzeugung ließ Sethe gleichwohl nicht stur auf einer einmal gefassten Meinung beharren. So wurde aus dem Gegner der Wiederbewaffnung ein zaghafter Befürworter. Von Politikern forderte er "Führungswillen" und "Zielbewusstsein" ein, auch "Männlichkeit". Demagogie war ihm zuwider, er war entsetzt über die seiner Meinung nach verleumderischen Wahlkämpfe.

Sethe ging 1955 zur Welt, die er aber verließ, als sich Verleger Axel Springer zum Kalten Krieger gewandelt hatte. Augstein heuerte ihn als Chefredakteur der Deutschen Allgemeinen Zeitung an, die dann nieerschien. Und so wechselte Sethe zur Zeit, schrieb alsbald auch wieder für die Welt und obendrein für den Stern. Daneben wurden Bücher immer wichtiger, die er in Nannens Verlag publizierte. Sethe verfasste historische Studien, darunter eine Geschichte der Deutschen, eine Kleine Geschichte Russlands sowie Zwischen Bonn und Moskau, seine nochmalige Abrechnung mit Adenauer.

Der Blick in die Geschichte war für Sethe unabdingbar. Noch einmal Augstein: "Er suchte die deutsche Zukunft, aber es war die Macht der Vergangenheit, die ihm dabei zu Gebote stand." Auch darin zeigt sich, dass Sethe, der weder mit abstrakter Kunst, noch mit der Nachkriegsliteratur etwas anzufangen wusste, ein Konservativer war.

Den Nationalsozialisten verübelte Sethe, dass sie "Begriffe, Gefühle, Lebenswerte, die jedem Konservativen teuer sind: Ordnung, Autorität, Tradition . . . missbraucht, ausgehöhlt, entleert" haben. Um so mehr bedürfe es einer neuen konservativen Bewegung, die zu nationaler Selbstbesinnung fähig sei.

Seinen Berufsstand betrachtete er, voller Selbstbewusstsein, als das "Gewissen der Nation". In einem Essay über "die Aufgabe des Publizisten" schrieb er: "Das ist ein großes Wort, ich weiß es. Aber es ist sorgfältig überlegt."

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