Passionsfestspiele:Das Wunder von Oberammergau

In dem Passionsspiel besetzen Bühnenbauer oder Forstwirte biblische Figuren. Wer ambitioniertes Chargentheater vermutet, liegt jedoch falsch.

Lars Langenau

Ein Dorf im Ausnahmezustand: 2400 Mitwirkende, ausverkauftes Haus, ein Pferd, drei Schafe, zwei Kamele, mehrere Tauben, ein Esel und der Präfekt der päpstlichen Bildungskongegration, Kardinal Zenon Grocholewski. Viel Prominenz bei den Leiden Jesu. Passionsfestspiele in Oberammergau 2010.

Oberammergau, Passionsspiele, AFP

"Tableau vivant" bei einer Kostümprobe der Oberammergauer Passionsspiele 2010.

(Foto: Foto: AFP)

Das Spektakel geht auf ein Gelübde aus dem Jahr 1633 zurück, als in der Gegend die Pest wütete und die Juden seit Jahrhunderten als Brunnenvergifter und als Auslöser des Schwarzen Todes galten. Dieses Theater verleitete nach den Aufführungen im ganzen Land immer wieder zu Pogromen. Ein Stück, das 1934 von Adolf Hitler zum "reichswichtiges Spiel aus der segnenden Kraft der Scholle" erklärt wurde. Ist diese Aufführung der Passion Christi - als Dorfversammlung von 5000 Laienspielern - überhaupt noch zeitgemäß?

Viel Aufregung gab es vor dem diesjährigen Spektakel: Nicht mehr zeitgemäß sei es, zudem gab es Ärger um die Überdachung der Bühne, die für die Schauspieler an diesem kalten, regnerischen Tag lebenswichtig wurde, dann die neugestalteten Bühnenbilder, das knappe Geld, die fehlenden Buchungen aus Übersee, die erstmalige Verlagerungen von Teilen in die Abendstunden, die Abkehr vom Laienspiel und Verleugnung der Tradition durch den Intendanten des Münchner Volkstheaters Christian Stückl.

Konzentration auf das Substrat des Urtextes

Alles war dann wie weggeblasen nach Beginn der Aufführung. Denn es geschah an diesem Samstag in Oberammergau etwas Außergewöhnliches, man könnte verleitet sein von einem Wunder zu sprechen.

Schließlich sind die Passionsspiele ein Sammelsurium aller vier Evangelien des Markus, Matthäus, Lukas und Johannes, gespickt mit Zitaten des Alten Testamentes. Und da kann man schon einiges falsch machen. Also hatte sich Stückl abermals intensiv mit dem Antijudaismus im Ursprungstext auseinandergesetzt.

Und nun hat der Spielleiter das Wunderwerk vollbracht, ein Stück frei von jeglicher Judenfeindlichkeit spielen zu lassen. Nicht mit einer bemühten Political Correctness, sondern mit einem ebenso intelligenten wie natürlichen Rückgriff auf den historischen Jesus, auf das Substrat des Urtextes, bei dem man denkt: Ja, so könnte es gewesen sein.

Auch nichts oder nur ganz wenig von der Befürchtung trat ein, all das hier könnte kitschig oder zumindest ein peinlicher Versuch sein, das "Leben des Brian" von Monthy Python nachzuspielen - nur in ernster Fassung. Na ja, zumindest nur ein paar mal denkt man das, wenn Nebendarsteller ihre Sätze mit tiefem bayerischen Akzent nervös hervorpressen, und das Gefühl entstand, da sind manche direkt von der Alm auf die Bühne getrieben worden. Oder bei den Kostümen der Tempelwache, die aussehen, als habe sich der Kostümbildner nicht zwischen Don Quichotte und den Zwergen hinter den sieben Bergen entscheiden können.

Doch richtig schmalzig ist allenfalls die Auferstehungsszene am Ende, bei der man denkt, nun aber sei Stückl nach mehr als fünfeinhalb Stunden die Ideenpuste ausgegangen. Verstärkt wird der Eindruck in dieser Phase des Stücks natürlich durch die Musik, die auf den Kompositionen von Rochus Dedler (1779 bis 1822) basieren und ihrer Zeit verhaftet sind. Anderseits sind es gerade die Massenszenen wie bei der Vertreibung der Händler aus dem Tempel und ihre musikalische Untermalung, die phasenweise an Mozarts Requiem und Bachs Matthäuspassion erinnert, die bei den Zuschauern wohlige Gänsehaut erzeugen.

Judas Schuld

Die von Judenfeinden wie ein Mantra erhobene Schuld des Verräters Judas und die des jüdischen Hohen Rates, der Jesus zum Tode verurteilte und ihn den hilflosen Römern auslieferte, die ihn gezwungenermaßen hinrichten mussten, hebt die aktuelle Inszenierung auf.

Bei Stückls Überarbeitung (gemeinsam mit Ludwig Mödl) wird Judas zum eigentlichen Revolutionär, zum zunächst glühenden Anhänger Jesu, der sich jedoch enttäuscht abwendet, weil Gottes Sohn die Verhältnisse nicht umstürzen will - gebt dem Kaiser was des Kaisers ist, gebt Gott was Gottes ist.

Stückl und Mödl lassen keinen Zweifel an Jesus als Vertreter einer jüdischen Reformbewegung, an der Verwandtschaft des christlichen Glaubens mit dem Judentum. Ganz deutlich wird das in der schlichten Abendmahlszene, in der der siebenarmige Leuchter, die Menora, eine zentrale Rolle spielt. Die Szene beeindruckt auch dadurch, weil hier der theologisch wichtige Aspekt des Teilens (ein Laib Brot, ein Kelch) in den Mittelpunkt gehoben wird anstatt der Sättigung. Zudem lässt er gerade Judas sprechen: "Vergebt uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!"

Judas, der Zelot

Jesus ist der beschnittene junge Jude, der seinen Glauben reformieren will und einen liebenden Gott verkündet, der sich weiterentwickelt hat vom strafenden Gott des alten Testamentes. Trotzdem bleibt Jesus gläubiger Jude. Er fordert zu einem radikalem Umdenken auf, den Kreislauf von Hass und Gegenhass, von Gewalt und Gegengewalt zu beenden. Jesus bleibt seiner jüdischen Tradition verhaftet, die Anfänge des Christentums werden historisch richtig als jüdischen Sekte gedeutet. Jesus und seine Jünger als ehrliche Reformer, Erneuerer des Jüdischen Glaubens, so wie es später Protestantismus für die katholische, die "allgemeingültige" Kirche wurde.

Dargestellt wird Jesus am ersten Tag der Aufführung vom 30-jährigen Pressesprecher des Münchner Volkstheaters Frederik Mayet, der seine Rolle aktiv und voller Hingabe interpretiert und es dadurch schafft, das Bild des reinen Opferlamm Gottes zu negieren. Wenn Mayet sich an diesem kalten, regnerischen Abend in seinem Lendenschurz nicht den Tod oder zumindest eine Lungenentzündung geholt haben sollte, ist er auch künftig eine Idealbesetzung für diese Rolle.

Judas wird in Oberammergau als Zelot gedeutet, als jüdischer Nationalist, der einen Umsturz der Verhältnisse durch einen neuen, weltlichen König herbeisehnt - und sich deshalb von Jesus bitter enttäuscht fühlt. Judas ist verhaftet in der irdischen Welt. Und weil Jesus nicht mehr und nicht weniger als Liebe predigt, auf Versöhnung setzt und keinesfalls den König vom Thron stürzen und sich selbst auf die weltliche Macht stützen will, ist er so verletzt. Der 39 Jahre alte Bühnenbaumeister Carsten Lück bringt diese Zerrissenheit Judas mit einer beeindruckenden schauspielerischen Leistung zum Ausdruck: Judas ist nach seinem Verrat, der keinesfalls vom Tode Jesu ausging, so von seelischen Schmerzen gepeinigt, dass er nur noch den Ausweg des Freitodes sieht.

Nicht den Hauch von Judenfeindlichkeit

Die neuen Passionsspiele zeigen zudem die Hohepriester unter Kaiphas so zerstritten über den Umgang mit Jesus, dass auch sie nicht einen Hauch der Judenfeindlichkeit wecken, der dem Spiel doch so lange inne war. Den Hohepriester Kaiphas gibt in der Premiere der Forstwirt Anton Burkhardt, 39, ein gestandenes Mannsbild. Er erfährt Widerstand, ist nur an der Sicherung seiner Macht, an der Interpretation seines Glaubens interessiert und sieht dies durch den Tod Jesus gesichert. Kaiphas ist ganz in päpstliches Weiß gekleidet, einer der aktuellen Bezüge des modernisierten Werkes, das seine politische und gesellschaftliche Relevanz nicht nur dadurch bewahrt.

Immer wieder erzeugen Textauswahl und Verhalten des Hohen Rates Parallelen zur heutigen katholischen Obrigkeit, die beispielsweise im Missbrauchskandal durch Verschleierung, Verleugnung der Wirklichkeit, des eitlen Über-den-Dingen-Schwebens eine unrühmliche Rolle spielt. Eine Obrigkeit, die damals wie heute ihre Marginalisierung verkennt und sich mit fortschreitender Abnahme ihrer Bedeutung um so stärker an Dogmen festklammert, anstatt ihr mit Offenheit und Veränderungswillen zu begegnen. Wie heiß muss es in diesen Szenen den anwesenden Purpurträgern geworden sein.

Selbst Pilatus wird von Stückl neubewertet, seine Rolle, überlegen und kraftvoll mit dem 44 Jahre alten Pyrotechniker und Gastwirt Christian Bierling besetzt, wird als unumschränkter Herrscher betont. Roms Statthalter hält Kaiphas immer wieder den Spiegel und seine Machtlosigkeit vor: Du wärst nichts ohne mich.

Lebende Bilder

Stückl, sein Dramaturg Otto Huber und der Kostüm- und Bühnenbildner Stefan Hageneier setzen auf der 70 Meter breiten Brettern des seit 1930 bestehenden Passionsspielbühnenhauses auf ein intelligentes Bühnenbild und fantastische Szenenbilder aus menschlichen Skulpturen, die eine Verbindung des ersten und zweiten Testamentes, vulgo: Altes und Neues Testament, herstellen. Die "Lebenden Bilder" sind bereits seit 1750 fester Bestandteil der Oberammergauer Spiele: Werke der Malerei, der Plastik werden durch Personen quasi eingefroren. Embleme der Passion als tableau vivant. Die 13 Rückblenden in wichtige Szenen von Moses, des leidenden Hiob oder Abrahams Opfer seines Sohnes Isaak erschließen einen Sinnzusammenhang zur Geschichte Christi. Sie stellen zentrale Punkte der Glaubens- und Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk Israel dar, sie geben Ordnung und schaffen gleichzeitig eine Idee davon, wie die Passionsspiele im Mittelalter auf die Menschen wirkten.

Diesmal sind die "Lebenden Bilder" in überzeichneten, knalligen Bonbonfarben gehalten und waren schon im Vorfeld höchst umstritten. Auch das Premierenpublikum kann sich nicht eindeutig für dieses Stilelement entscheiden: Die Reaktionen schwanken zwischen Begeisterung und der Erfahrbarmachung historischer Passionsspiele bis zur schroffen Ablehnung der Darstellung als vermeintlich naiv und banal.

Wie war es also? Fantastisch. Beeindruckend. Berührend. Stückl und mit ihm das ganze Dorf Oberammergau haben es ihren Kritikern gezeigt. Lediglich die Akustik muss schnellstens verbessert werden - und für 2020 muss die Auferstehungsszene überarbeitet werden. Aber wo sonst ist es möglich, das man aus einer Trauergeschichte Kraft fürs Leben schöpfen kann? Verbunden sei dies mit dem Wunsch, dass das Haus bis zum 3. Oktober jeden Tag ausverkauft sei. Fünf Tage die Woche. Und in zehn Jahren sieht man sich wieder.

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