"Parsifal" in Paris:Die Entweihung des Grals

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Richard Wagners "Parsifal" in der Neuinszenierung durch Richard Jones an der Pariser Opéra. (Foto: Vincent Pontet/Vincent Pontet)

Dirigentin Simone Young und Regisseur Richard Jones geben sich in Paris alle Mühe, Richard Wagners letzte Oper "Parsifal" zu entdramatisieren.

Von Helmut Mauró 

Stand hinter der Neuproduktion von Richard Wagners Bühnenweihfestspiel "Parsifal" an der Pariser Oper das Konzept, diese aufschlussreich zu dekonstruieren? Regisseur Richard Jones steckte die Ritter in hellgraue Jogginganzüge, weiße Socken und Loafers und zog im Programmheft ideologische Parallelen von Wagners Ritterorden zu Heinrich Himmlers Lebensborn-Projekt. Der liebesverwundete Ritter-Abt Amfortas stolpert den Abend lang über die Bühne, fällt oft hin, beim letzten Abendmahl, das hier Liebesmahl heißt, purzelt er vom Tisch. Ein junger Ritter muss übernehmen. Vielleicht hat er auch die Entweihung des Altartisches, auf den er steigen musste, nicht verwunden. Der naive Parsifal, der hier als kompletter Idiot herumtorkelt, wird am Ende die Wunde des Alten schließen. Wagners Theateridee, den Prozess des naiven Gewaltmenschen hin zum christlich zivilisierten sozialen Wesen aufzuzeigen, fällt mit Amfortas unter den Tisch.

Dennoch hätte diese Banalisierung des Stoffes vor der Kulisse der hochdramatischen "Parsifal"-Musik erhellend unterhaltend sein können. Nun verfolgte Simone Young aber offenbar das gleiche Konzept der Banalisierung und Entdramatisierung dieser Oper; zumindest klang es so. Sie reduzierte den aufwühlenden Soundtrack auf ein dramatisches Minimum. Das spürte man schon am zähen, viel zu langsamen Beginn, der bereits ahnen ließ, dass auch das Pariser Opernorchester entweder schlecht vorbereitet oder dieser Partitur grundsätzlich nicht gewachsen war, bei der schon die ersten Töne des Vorspiels perfekt gesetzt sein müssen. Sie sind von entscheidender Bedeutung in Richard Wagners letzter Oper, die man getrost als sein opus summum bezeichnen kann, als Bilanz und Vermächtnis seines gesamten Schaffens. Das eröffnende sogenannte Liebesmahlthema durchzieht das fünfstündige Musiktheater dergestalt, dass sich beinahe alles auf diesen Anfang bezieht. Und der kommt unisono, das heißt, alle spielen dieselben Töne. Und weil Wagner wie alle großen Komponisten den ausführenden Musikern misstraute, wollte er, dass nur jeweils die ersten Pulte spielen und die übrigen schweigen, um den perfekten Einklang zu erreichen. Wie ausgetüftelt der sich am Ende zeigt, sieht man schon in den Besetzungsdetails: Fagott und tiefe Klarinetten legen sich im unteren Bereich über den Streicherklang, was diesem in der Tiefe seine typische Färbung nimmt und gleichzeitig das Bassfundament stärkt. Später kommen noch Englischhörner hinzu, die wiederum eine neue Färbung des Gesamtklangs bewirken.

Diese Oper verlangt viel von Orchester und Dirigent, also auch vom Pariser Opernorchester und der Dirigentin Simone Young, die sich entspannt und oftmals zu nachlässig der Aufgabe stellten. Da waren Einsätze so verwackelt wie die Intonation. Das galt auch für den in den Oberstimmen furchtbar zerrissenen Chorklang, das galt auch im Zusammentreffen der teils hervorragenden Sänger mit dem Orchester. Simone Young lies dieses vor allem ruhig begleiten, sodass sich Brian Mulligan als Amfortas, Reinhard Hagen als Titurel, Kwangchul Youn als Gurnemanz stimmlich voll ausbreiten konnten. Der anfangs noch vielversprechende, im Verlauf immer flacher werdende hohe Tenor Simon O`Neill als Parsifal leider auch. Die stimmstarken Sänger sowie die glänzende Kundry der Marina Prudenskaya allerdings hätten dieser Orchester-Rücksicht nicht bedurft. Sie hätten im Spannungsfeld der aufwühlenden Leidensmusik wesentlich wirkungsvoller agieren können. Das Orchester blieb aber den ganzen Abend hindurch hartnäckig leise, verhalten, undramatisch. Das konnte man sich bis dahin kaum vorstellen, aber vielleicht lieferte Wagner selber Grund für solches Missverständnis. Hatte er die Ring-Tetralogie noch derart opulent orchestriert, dass die Sänger noch heute Mühe haben, sich dagegen durchzusetzen, schlägt er im Parsifal zwar nicht unbedingt leisere Töne an, aber doch durchweg fein strukturiertere, in sich ausgewogenere Klangballungen. Man kann das als Ergebnis eines umfassenden Erfahrungsprozess verstehen, denn er wollte ja sogar den Ring - offenbar in gleicher Absicht - noch einmal neu instrumentieren.

Die stete Gefährdung des musikalischen Klangraumes trägt nicht unwesentlich bei zu einer wirksamen Mythen-Ästhetik

Wagner zeigt im "Parsifal" einen neuen theatralischen Ehrgeiz, den Mythos nicht nur als textbezogenen Inhalt zu inszenieren, sondern die Musik selber als mythische Kraft in den Vordergrund treten zu lassen. Dabei geht es durchaus um Grenzerfahrungen, um Abgründe, die allein durch Klang hervorgerufen würden. Man kann wohl sagen, dass ihm dies mehr als gelungen ist. Und es ist wohl auch dieser musikästhetische Umsturz, der einen rückwirkend auch die vorhergehenden Wagner-Opern anders hören lässt, der schließlich den Kern der Wagner-Faszination bis heute ausmacht. So etwas hat es vorher nicht annähernd gegeben, und damit einher gehen auch die Visionen eines komplett unsichtbaren Klanges, der frei von allen Nebengeräuschen ist, die auf die Alltagsrealität verweisen könnten, vor allem auf die Klangproduktion selbst. Die sollte nicht mehr wahrnehmbar sein, und so war es naheliegend, die Musiker unter einen gewölbten Holzdeckel zu verbannen, der selber, akustisch gesehen, eine Art Instrument ist, das alle Einzelklänge zusammenfasst zu einer Gesamtwirkung.

Das ist in einem normalen Opernhaus oder Konzertsaal nicht möglich, es ist ungefähr das Gegenteil dessen, was heute der Standard ist: Dass alles auch sichtbar sein soll, was gehört werden kann. Das Aufdecken der Produktionsbedingungen gilt vielen als revolutionäre Tat, ist aber doch die ältere historische Schicht und führt öfter weg von der Musik, als dass sie zu einem tieferen Verständnis verhülfe. Kein Wunder, dass Wagner darauf bestand, dass der "Parsifal" nur in Bayreuth aufgeführt werden dürfe. Das galt noch lange ins 20. Jahrhundert hinein sogar für Tonaufnahmen. Man sollte diese klangliche Mythenbildung aber nicht verwechseln mit einer Art Verschleierungstaktik, die das Konkrete scheut und alles im Ungefähren belässt, sodass es erstens kaum noch etwas Falsches geben kann in diesen Nebelklängen, und sich zweitens jeder seine eigene Geschichte zurechtträumen kann. Das wäre ein grobes Missverständnis, das in der Pariser Produktion möglicherweise mitspielte. Wagners stete Forderung nach Textverständlichkeit spricht deutlich gegen diese Auffassung. Die Verschmelzung einzelner Klangfarben hat System, bis in jedes Detail, und neben dem Orchestergroßklang gibt es auch immer wieder solistische Ausbrüche, die gleichsam an die Bausteine dieses Mischklangs erinnern. In besonders gelungenen Aufführungen kann man diesen Prozess der Erfindung der Wagnerschen Klangsprache hautnah miterleben.

Simone Young schaffte das nicht, und sie kann sich dabei auch nicht darauf berufen, dass das Orchester der Uraufführung, schon wegen der Verwendung von Darmsaiten, sicherlich leiser klang. Diese Musik braucht eine große dynamische Bandbreite, da kann man schlechterdings nicht durchweg zwischen Piano und Mezzoforte verharren, und Wagner selber forderte mehr Streicher. Vielleicht wollte Young auch der Gefahr entgehen, dass, wie in manchen gängigen Aufführungen, mit Wucht und Lautstärke Wesentliches verloren geht, nämlich eine stets mitschwingende Zerbrechlichkeit des großen Klanges, wie man sie unter den Ideal-Bedingungen des Wagnerschen Festspielhauses in Bayreuth erleben kann. Diese stete Gefährdung des musikalischen Klangraumes trägt nicht unwesentlich bei zu einer wirksamen Mythen-Ästhetik, die auch durch Ausweitung der bisherigen Orchester-Möglichkeiten erreicht wird, durch einen runderen und volleren Klang, den Wagner nicht nur den Bläsern abverlangte, sondern etwa auch durch den Einsatz von gesanglicheren und helleren Altviolinen anstelle von Bratschen erwirkte. Aber diese Zerbrechlichkeit verlangt nicht weniger Dramatik in der musikalischen Gestaltung, sondern eher mehr. Vor allem präzise Detailarbeit. Die fehlte hier hörbar, und von einer potenziell interessanten und unterhaltsamen Dekonstruktion blieb nur dröge Demontage, eine über weite Strecken sehr langweilige inhaltliche und ästhetische Entleerung von Wagners Theateridee.

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