Papst Benedikt XVI.:Aufbruch zur Versöhnung

Papst Benedikt XVI.

Papst Benedikt XVI. konnte den Erwartungen nach seiner Wahl nicht gerecht werden - auch eine Erneuerung der Kirche gelang ihm nicht. Eine der wichtigsten Herausforderungen an seinen Nachfolger, findet Raúl Vera.

(Foto: dpa)

Mehr auf die Menschen zugehen, das Papsttum wieder verständlicher machen: Der Rücktritt von Benedikt XVI. ist eine Chance für eine Kirche, die sich dringend reformieren muss. Nicht nur in Lateinamerika.

Ein Gastbeitrag von Raúl Vera

Es ist ungewöhnlich, vom Beginn eines neuen Pontifikats zu sprechen, während der scheidende Papst noch am Leben ist. Während er, wenn auch körperlich müde, uns weiterhin Lehren erteilen kann. Die Abdankung von Papst Benedikt XVI. ist nicht nur eine Überraschung gewesen, sondern ein Ereignis, das bedeutende Auswirkungen auf diese Kirche und ganze Gesellschaften haben wird.

Eine wunderbare Herausforderung für den Nachfolger könnte etwa die Aufgabe sein, das Papsttum für eine säkularisierte Welt verständlicher zu machen. Denn auch wenn dieser Obrigkeitsdienst ausgeführt wurde wie eine göttliche Eingebung, was er wirklich ist, so hat man ihn doch mit vielen Zeichen umgeben, die ein Monopol der Macht widerspiegeln.

Der Rücktritt von Benedikt XVI. bietet uns das Privileg, von einer Kirche zu träumen, wie wir sie sein wollen, und über die notwendigen Veränderungen ihrer Strukturen nachzudenken. Es wird Zeit, dass sich die Kirche den Direktiven des Zweiten Vatikanischen Konzils anpasst, die eine tiefe Erneuerung verlangen. Der neue Papst sollte auf Mittel zählen, die ihn mehr in Kontakt mit den Frauen und Männern bringen, die in jeder Region der Welt das Volk Gottes bilden.

Bei seinem Rücktritt am 11. Februar sagte Benedikt XVI.: "Um das Boot des Heiligen Petrus zu steuern, ist die Kraft des Körpers und des Geistes nötig." Damit zeigt uns Seine Heiligkeit Wege für die nächste Wahl auf. Er denkt an das Alter, aber auch an die Vorbereitung, die ein geeigneter Pastor braucht, um die Mission von Petrus' Nachfolge zu erfüllen. Wir können keinen Kapitän ans Steuer des Bootes lassen, der keinen Stürmen gewachsen ist.

Die Weltgeschichte, auf die uns das Zweite Vatikanische Konzil Einfluss zu nehmen bittet, ist weder eine Utopie noch abstrakt. Sie besteht aus Menschen mit Klagen und Nöten, die unsere Anwesenheit und Führerschaft verlangen, auch wenn die Zahl der Gläubigen abnimmt.

Die globalisierte Gesellschaft und die neuen Netzwerke der Kommunikation weisen der Kirche einen neuen Weg. Sie sollte mitten ins Leben der Familien treten, egal wie vereint oder geformt sie sind. Sie sollte sich mit Leib und Wort engagieren und ein Beispiel dafür sein, dass Friede, Gerechtigkeit und Würde für jede Frau und jeden Mann Realität werden. Wie wäre es, wenn wir Kirchenmitglieder uns alle auf die Probe stellen, vor allem die Geistlichen, zusammen mit unserem Papst? Der Verlust von Glaubwürdigkeit und Respekt, den die Kirche erleidet, sollte uns dazu anregen.

Wir sollten unsere Völker begleiten, die in Lateinamerika - und das sage ich mit Beschämung, weil wir mehrheitlich katholisch sind - in Armut leben. In Mexiko leben die Menschen in Elend, sie leiden unter Arbeitslosigkeit und Diskriminierung, sie werden vergewaltigt und entführt, sie wandern aus. Es lohnt sich, an den Propheten Jesaia zu denken, er sagt uns, dass wenn wir das Brot mit dem Hungernden teilen, unser Haus für die Obdachlosen öffnen, die Nackten besuchen und nicht den Rücken unserem eigenen Bruder zukehren, "alsdann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Besserung wird schnell wachsen, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird dich zu sich nehmen." Das Evangelium Jesu verlangt uns die Verpflichtung ab, eine arme Kirche unter Armen und mit den Armen zu sein.

Im Vordergrund das Machtkonzept

Im August und September 1968 versammelten sich im kolumbianischen Medellín 146 lateinamerikanische Bischöfe - die Konferenz ging in die Geschichte ein als die Geburtsstunde der Befreiungstheologie. Seitdem gehört es unabdingbar zum Priestersein in Lateinamerika, dass man die Realität im Lichte des Zweiten Vatikanischen Konzil kritisch hinterfragt. Um den Gründen für die eklatante Ungerechtigkeit auf dem Gebiet auf den Grund zu gehen, muss man die Wirklichkeit von Auswanderung und Armut anerkennen. So fing in Medellín unser Weg nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil an.

Nur so können sich Menschen in aufbauende Individuen der Geschichte verwandeln, mit Gerechtigkeitssinn, Würde und tiefem Respekt vor anderen Menschen und deren Rechten. Mit tiefem Respekt auch vor der Mutter Erde, die uns der Schöpfer zur Verfügung gestellt hat, damit wir von ihr das Notwendige zum Lebensunterhalt der gesamten Menschheitsfamilie erhalten.

Manchen Leuten im Vatikan missfällt die prophetische Kirche Lateinamerikas, die das Evangelium verkündigt, aber auch die Ungerechtigkeiten benennt und aufhört, ein Teil der Ungerechtigkeit zu sein. Eine prophetische Kirche zu sein, heißt auch, sich der Macht zu entziehen. Sich unabhängig von den Mächten der Welt zu organisieren. Frei zu arbeiten, Entscheidungsfreiheit zu haben, ohne sie von Interessen abhängig zu machen, die der menschlichen Würde fremd sind. Eine diplomatische Beziehung zu den Mächtigen dieser Welt sollte nie aufgegeben werden, aber diese Beziehung darf in keinem Fall über dem Wohl der Gesellschaft stehen.

Der interreligiöse Dialog und das Gespräch mit allen Arten von Führungspersönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft sind unentbehrlich. Die Kirche sollte sich in die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Sorgen der Zeit einbringen, aber ich insistiere: Die Opfer, die Waisen, die Witwen, die Obdachlosen, die Indigenen werden immer über den korrupten Unternehmern und Regierenden stehen. Denn sie haben auf der Agenda Christi Priorität, obwohl einige glauben, dass der Kampf für die Menschenrechte Prestigeverlust bedeutet.

Jede Frage, die ich seit Jahren an die Kirche richte, richte ich nun auch an denjenigen, der den Petrus-Stuhl demnächst übernehmen wird. Es gibt viele Konflikte innerhalb unserer Kirche, und nur in Zuneigung an den Auftrag Jesu, die Welt zu retten, liegt der Weg zu deren Überwindung. Wir wollen, dass der, den Christus seinen Vikar für die Universelle Kirche nennt, uns zuhört und die Einzelkirchen weltweit, wie auch in unserem verlassenen Lateinamerika, vorantreibt.

Solange bei einigen Personen, die an der Seite des Papstes arbeiten, ein Konzept der Macht statt des Dienstes fortbesteht, werden wir weiterhin Misstrauen und Kontrolle erfahren, welche die lokalen Kirchen ausbremsen und Rückschritte in der priesterlichen Arbeit verursachen, die auch der Universellen Kirche schaden. Letzteres sage ich, weil die Stärke der Universellen Kirche nicht zuletzt in den auf dem Erdkreis verstreuten Einzelkirchen liegt.

Eine gute Wahl wird nicht nur von der momentanen Inspiration und flüchtigen Eingebung des Heiligen Geistes abhängen. Sondern von dem Willen und dem Bewusstsein derer, die Elend und Misstrauen tatsächlich beseitigen wollen. Das ist notwendig, damit die Kirche die von Christus beauftragte Mission zum Wohl der Menschheit erfüllen kann. Nur so sollte das "Habemus papam" verstanden werden, in welches das Urteilsvermögen der wählenden Herren Kardinäle mündet. Dieses "Habemus papam" sollte sich wie eine Antwort auf die Fragen und Erwartungen der Welt anhören.

Ich denke, dass auf diese Weise der künftige Papst auf das Vertrauen und die Unterstützung unserer Gesellschaften zählen kann, auf die Kinder und die Frauen, die Rentner und die Studenten. Darauf, dass alle Gläubigen in dem Beitrag einbezogen werden, den die Kirche ausgehend vom Evangelium und der erlösenden Gnade Christi der heutigen Welt geben muss.

Ich hoffe, dass der Nachfolger von Benedikt XVI. die Freude, die Hoffnungen, die Traurigkeit, die Ängste der Lateinamerikaner teilen kann - vor allem der Ärmsten unter ihnen und derjenigen, die in diesen Momenten Gewalt erleiden. Lasst uns zusammen an der Seite unseres nächsten Universellen Priesters den historischen Abschnitt durchlaufen, den die Vorsehung für ihn bestimmt hat. Und lasst uns gemeinsam für eine gerechtere Welt arbeiten, in der endlich Liebe und Frieden herrschen.

José Raúl Vera López ist Bischof von Saltillo, einem Brennpunkt des mexikanischen Drogenkrieges. 2010 erhielt er den Thorolf-Rafto-Gedenkpreis. Dieser Text ist Teil der fünfteiligen SZ-Serie "Der Papst und die Welt", die sich damit auseinandersetzt, was das achtjährige Pontifikat von Benedikt XVI. der Welt gebracht hat. Deutsch von Peter Burghardt.

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