Papst Benedikt XVI.:Angst vor Menschen ohne Zweifel

Der Papst regt sehr viele Menschen zum Nachdenken über Alternativen an. Wir müssen nicht glauben, was er sagt - ein Lob der Aufklärung.

Sonja Zekri

Am erstaunlichsten ist die Verwunderung. Als hätte man alles erwartet, nur das nicht. Dass der Papst einen Bischof rehabilitiert, der den Holocaust leugnet zum Beispiel; oder dass er Protestanten, Juden, Orthodoxe wie Menschen zweiter Klasse behandelt und Nicht-Gläubige sogar wie Menschen dritter Klasse; oder dass er damals - der Karikaturenstreit war noch nicht ausgestanden - Muslime durch ein islamfeindliches Zitat aus dem 15. Jahrhundert brüskierte.

Papst Benedikt XVI.: Alles nur Missverständnisse?  Papst Benedikt XVI. musste sich einigen Vorwürfen stellen.

Alles nur Missverständnisse? Papst Benedikt XVI. musste sich einigen Vorwürfen stellen.

(Foto: Foto: ddp)

Ausgerechnet er, ein deutscher Papst. Dann die Erklärungen: Benedikt XVI. sei schlecht beraten worden. Er habe vielleicht Schlechtes getan, aber Gutes gewollt. Oder: Alles Strategie. Heutzutage müsse der Papst nunmal Kante zeigen, sonst laufen ihm die Gläubigen in Afrika davon, zu Voodoo-Sekten mit schrecklichen Bräuchen. Da kann er sich nicht so lang um die paar aufgeklärten Schäfchen in Europa kümmern. Und natürlich sei er wegen der Missverständnisse getroffen.

Wie tief, das ließ Benedikt vor kurzem in einem Brief erkennen, in dem er ein paar Dinge zur Affäre um die Piusbruderschaft klarstellte. Darin klagte er, dass einige Katholiken, "die es eigentlich besser wissen konnten", auf ihn "eingeschlagen" haben, sodann tadelt er die "sprungbereite Feindseligkeit" seiner Kritiker. Immerhin räumte er auch Fehler ein: Er habe das Internet unterschätzt.

Das sind kaum die erlösenden Worte, auf die liberale Katholiken warten. Sie treten aus, in Scharen, zerrissen von einer Spannung, die immer da ist, aber seit dem Einzug Ratzingers in den Vatikan unerträglich geworden ist - der Widerspruch zwischen der Institution Kirche und ihren eigenen persönlichen Werten.

Inzwischen kann man das Ausmaß jenes grotesken Missverständnisses beim Amtsantritt Benedikts XVI. ermessen, als die deutschen Medien sich einem Taumel hingaben: als würde nicht nur ein Deutscher in den Vatikan einziehen, sondern sogar der ganze bundesrepublikanische Prinzipienkanon mit Toleranzgebot, Dialogzwang und Pluralismus, als würde sich der Vatikan in etwas Republikähnliches verwandeln, nur irgendwie feierlicher, glanzvoller, eben römischer. Eines muss man Ratzinger lassen: Nichts davon hatte er je versprochen. Er tut es auch jetzt nicht, da mögen noch so viele zur Gitarre den Lockruf einer Kirche von unten anstimmen.

Kompromisslos reaktionär

Josef Ratzingers Lehre war nie gemütlich konservativ, sondern stets kompromisslos reaktionär, und so ist es bis heute geblieben. Damals wie heute gilt ihm der Mensch weniger als die Einheit der Institution, das Prinzip mehr als ein Leben, und die Folgen sind so verheerend wie immer, wenn Ideen wichtiger als Menschen werden.

Der Hinweis auf das päpstliche Kondom-Verbot ist nicht originell, aber zur Papst-Reise nach Afrika doch ersichtlich relevant: Dass die Kirche von ihren Gläubigen verlangt, eher zu sterben als sich vor HIV zu schützen, verrät Robespierreschen Dogmatismus, und es zeigt, dass die reine Lehre der katholischen Kirche lebensgefährlich ist für die Menschen, erst recht in einem Kontinent, in dem südlich der Sahara 22 Millionen HIV-Infizierte leben. In Brasilien derweil hat die Kirche Ärzte exkommuniziert, die eine Abtreibung vorgenommen haben, weil eine Neunjährige von ihrem Stiefvater missbraucht und mit Zwillingen schwanger geworden war. Die brasilianischen Bischöfe sind dabei keine Extremisten, sie handeln schlicht im Geist ihrer Kirche.

Europa hat jahrhundertelang gerungen um die Gleichstellung der Frau und den Schutz von Minderheiten wie Schwulen und Lesben. Der Papst hingegen versöhnt sich lieber mit der Pius-Bruderschaft, die Deutschland in einen Gottesstaat verwandeln möchte und die Todesstrafe für hilfreich hält. Nichts ist beängstigender als Menschen ohne Zweifel. Der Papst darf von Amts wegen nicht zweifeln. Wie soll sich ein Unfehlbarer beraten lassen? Wie soll er Fehler zugeben, wie bereuen?

Natürlich ist das alles eine Frage der Relation. Dem neuen russischen Patriarchen Kirill werden Reformerqualitäten zugeschrieben, weil er vielleicht eines Tages mit dem Papst sprechen könnte. Zwischen den beiden liegt vieles im Argen, nur in ihrer Feindseligkeit gegenüber Schwulen, anderen Konfessionen und der Moderne im Ganzen ähneln sie sich bis aufs Haar. Da hätten sie viel Gesprächsstoff.

Intellektuelle Lähmungserscheinung

Für den Briten Bertrand Russell, bis heute einer der elegantesten und radikalsten Verteidiger der Aufklärung, war der viel zitierte unerschütterliche Glaube kein Wert an sich, sondern eher eine intellektuelle Lähmungserscheinung und Gott eine Vorstellung aus "alten orientalischen Gewaltherrschaften", somit: "freier Menschen unwürdig".

Im Jahre 1927 hielt der Mathematiker, Literaturnobelpreisträger und Humanist Russell in London seinen historischen Vortrag mit dem Titel "Warum ich kein Christ bin". In seiner Rede widerlegte er (unter anderem) die Unsterblichkeit mit den Mitteln der Logik, in diesem Fall mit einer Apfelsinenkiste: Wer beim Öffnen einer Kiste Orangen feststellt, dass die obere Lage vergammelt ist, der wird nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit kaum darauf schließen, dass der Rest unverdorben sei. Er wird stattdessen messerscharf schließen, dass die ganze Kiste hinüber ist. Ähnlich wird ein wissenschaftlich denkender Mensch das Universum beurteilen: Warum soll das Leben nach dem Tod besser sein, wenn es bis dahin so miserabel ist? Russells Vortrag war ein Plädoyer für das Mitgefühl, den Zweifel und die Vernunft.

Verbindung zwischen Religion und Angst

Wenn man über 80 Jahre später sieht, wie mühelos der Nordirland-Konflikt nach Jahren mühsamer Aggressionskontrolle aufflammt, wie Protestanten und Katholiken ohnehin nie ausgesöhnt waren und nun, nach den Anschlägen von Antrim und Craigavon, neue Schrecken heraufziehen, so wirkt Russells Verbindung zwischen Religion und Angst noch aktueller. Einzig die Angst hielt er für die Grundlage der Religion, "Angst vor dem Geheimnisvollen, Angst vor Niederlagen, Angst vor dem Tod. Angst aber ist die Mutter der Grausamkeit".

Viele haben seit Russells Vortrag - und natürlich auch davor - das Hohelied der Aufklärung gesungen. Einige, wie der Evolutionsbiologe Richard Dawkins ("Der Gotteswahn"), sind inzwischen so missionarisch wie die Kirche selbst, andere geben sich humorbetont wie die "Spanische Union der Atheisten und Freidenker", die auf Bussen die tröstliche Botschaft drucken ließ: "Es gibt keinen Gott. Entspannt euch und genießt das Leben!", oder jene Jugendlichen, die auf Buttons und T-Shirts den Satz tragen "Jesus is coming. Look busy!" Demnächst kommt "Religulous" heraus, ein Film des "Seinfeld"-Miterfinders Larry Charles, in dem er den Late-Night-Talker Bill Maher in Trucker-Kirchen und auf Jesus-Paraden schickt nach der Ketzer-Devise: "Man wird wohl noch fragen dürfen."

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Orientierungslosigkeit in der Krise

Gottlose seien moralisch nicht weniger gefestigt als Gläubige und auch nicht weniger glücksfähig, im Gegenteil, lautet der Kern solcher Kampagnen. Die Emanzipationsforderungen bleiben nicht ohne Erfolge. Barack Obama, an dessen Person sich Heilserwartungen in einem Ausmaß knüpfen, die Europäer befremden müssten, hat bei seiner Amtseinführung Nichtgläubige in einem Atemzug mit den Weltreligionen genannt - als erster US-Präsident überhaupt.

Die kurzfristigen Rekrutierungserfolge der Kirchen und Sekten können derweil nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie immer nur dort gewinnen, wo das Elend besonders groß ist, und dass die Lösungen der offiziellen Kirche für die komplexen Konflikte der Gegenwart geradezu schockierend dürftig sind. Zur Wirtschaftskrise bemerkte der Papst, er spüre eine große "Orientierungslosigkeit". Da hat man sogar von Insolvenzberatern Luzideres gehört. Aber Benedikt ist nicht der einzige phantasielose Kirchenführer.

Furcht vor der Steinigung

In der Newsweek denkt Fareed Zakaria über den Umgang mit dem militanten Islamismus nach. Ganze Völker, die noch vor dreißig, vierzig Jahren ihr Heil in der Moderne und in Europa suchten, begreifen sich heute vor allem als islamische Gemeinschaften. Nach dem 11. September 2001 hat Amerika dieses Erwachen einzig als militärisches Reservoir im Krieg der Zivilisationen betrachtet. Eine Burka aber sei kein Sprengstoffgürtel, argumentiert Zakaria, sie sei barbarisch und zivilisationsfeindlich, aber oft nur Ausdruck lokaler Rückständigkeit, nicht globaler Eroberungsträume. Die effektivsten Verbündeten im Kampf gegen den militanten Islamismus fänden sich oft nicht in den Reihen der Moderaten, sondern jener Strenggläubigen, die vielleicht die Steinigung befürworten, aber keinen globalen Dschihad.

Der Gedanke an eine Allianz mit Fundamentalisten in Afghanistan oder dem Irak ist recht gewöhnungsbedürftig. Er verliert aber etwas an Schrecken, wenn man die langfristige Perspektive betrachtet. In Nigeria beispielsweise wurde in einigen Regionen die Scharia eingeführt, was den Militanten den Boden entzog, was aber vor allem die Fehlbarkeit der Tugendwächter bewies. Einige der Radikalsten seien inzwischen der Unterschlagung bezichtigt worden. Die Entlarvung der religiösen Eiferer als politisch ungeschickt oder moralisch fehlbar ist nur eine Frage der Zeit. "In Wahrheit", schreibt Zakaria, "haben die Islamisten keine Antworten auf die Fragen der modernen Welt. Sie bieten keine Sicht an, die den Ansprüchen moderner Männer und Frauen genügt."

In der Tat träumen im russischen Kaukasus oder in Ägypten Muslime von der Scharia, aber es ist ein Traum, der sich aus Unkenntnis und Wut speist. Die radikalsten religiösen Angebote finden immer dort Anhänger, wo die Säkularen am jämmerlichsten gescheitert sind. Dem Sieg der Theokraten geht der Bankrott der Säkularen voraus: Willkür, Nepotismus, Milliarden auf Schweizer Konten. Das war in Iran und in Algerien so, und es ist in Israel und Nigeria nicht anders. Die Hamas ist ohne die jahrzehntelange Verelendung der Palästinenser und die Korruptionsexzesse der Fatah nicht denkbar, und sie erblüht umso leichter, je kompromissloser sich die israelische Politik gibt. Orthodoxe Juden wiederum dürften zum Frieden im Nahen Osten kaum mehr beitragen als ihre schlimmsten Gegner.

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Profitieren von der Frustration

Der Iran beweist das Scheitern eines Staates, der auf religiösen Prinzipien aufgebaut ist: Politisch isoliert, wirtschaftlich verelendet, bleibt der Gesellschaft von der Religion nur der Zwang, und manche Iraner sagen, vielleicht seien ausgerechnet sie die am wenigsten religiöse Gesellschaft der ganzen Region.

Klappern und Tänze

In Afrika nun lässt der Papst sich feiern, aber er profitiert nur von der riesigen Frustration der Menschen, die sich von ihren eigenen Herrschern kolonisiert fühlen und von Europa vergessen. Früher waren mehr Menschen arm, aber es war eine einsame Armut, die von den Möglichkeiten im Rest der Welt nichts wusste. Heute besitzen selbst Wüstenstämme Handys.

Mit der Technik kam die Vergleichbarkeit und mit den Vergleichen die Enttäuschungen. Sekten, Kirchen und Moscheen linderten die Verzweiflung mit Klappern und Tänzen und der Aussicht auf Belohnung im Jenseits. Es ist ein seit Jahrtausenden schwacher Trost, gleichzeitig ein Surrogat für politische Ansprüche. Wenn sich im nächsten Leben alles fügt, erträgt man derzeitiges Unrecht eben leichter.

Seit Menschengedenken empfiehlt sich Religion derart als Wegweiser durch die Höhen und Tiefen des Lebens, als spirituelle Heimat, aber in unterschiedlichem Maße auch als Richtschnur für das tägliche Leben.

Die Vielfalt der Lebensentwürfe ist heute in vielen Teilen der Welt so groß wie sie es nie war. Antworten, die vor 2000 progressiv waren, erfassen heute nur einen Bruchteil der Wirklichkeit. In traditionellen Gesellschaften ist diese Kluft noch nicht so groß wie in Europa oder Nordamerika. Doch das ist nur eine Frage der Zeit.

Scheidungen und coming outs

Die beständige reproduktionswillige Idealfamilie war immer ein Lebensmodell neben anderen, aber viele Menschen arrangieren sich heute mit Scheidungen, Neuanfängen, anderen Partnern, fremden Kindern, coming outs - auch und gerade in Afrika. So sind die Angriffe des Papstes auf die "Diktatur des Relativismus" eigentlich nur noch Rückzugsgefechte.

Der religiöse Dogmatismus erlebt zwar gerade einen Aufschwung in der arabischen Welt, in Afrika, sogar in so fortschrittsverliebten Gesellschaften wie Amerika.

Auf Zeiten geistiger Enge aber folgen immer wieder Ausbrüche, und vielleicht setzt der Pendelschwung gerade schon ein. Man mag zu Barack Obamas Förderung der embryonalen Stammzellen-Forschung stehen wie man will.

Aber sein Bekenntnis zu einer freien Wissenschaft wirkt nach Jahren kreationistischer Denkverbote der fundamentalistischen Christen wie ein frischer Wind. Wissenschaftliche Entscheidungen, beschied er, sollten künftig auf der Grundlage von Fakten getroffen werden, nicht aufgrund einer "Ideologie".

Ein später Sieg für Bertrand Russell. Für ihn war würdevolles Leben einzig in einer aufgeklärten Gesellschaft vorstellbar. "Die Welt braucht einen furchtlosen Ausblick auf die Zukunft", schrieb er 1927, "und eine freie Intelligenz."

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