Pablo Picasso:Warum "Guernica" nichts mit Guernica zu tun hat

Pablo Picasso Guernica 1937

Keine Flugzeuge, keine Bomben, keine Soldaten. Stattdessen Pferd, Vogel und Glühbirnensonne: Picassos "Guernica".

(Foto: Mauritius Images / Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

Stierhoden, Brüste und Zoophilie: Der Kunsthistoriker Jörg Martin Merz hat eine Lösung für die Rätsel gefunden, die Pablo Picassos ikonisches Antikriegsgemälde schon immer aufwarf.

Von Reinhard Brembeck

In der Flanke des Pferdes klafft eine riesige Wunde, gleich daneben steckt auch der Schaft einer Lanze. Das Tier bricht im Todeskampf zusammen, den Kopf wirft es wild wiehernd nach hinten, die Glieder geraten in Konfusion.

Auch sonst dominieren Vernichtung und Leid dieses riesengroße Bild, es ist acht Meter breit und dreieinhalb Meter hoch. Auf der rechten Seite klagt eine brennende Frau vor einem brennenden Haus, am Boden liegen Kopf und Arme eines Mannes, ein zerbrochenes Schwert in der Hand, links daneben jammert eine Frau mit einem Kleinkind in den Armen. Nur der Stier über ihr wendet sich stoisch von all dem ab. Während eine Frau mit Kerze in der Hand die Szene ebenso erleuchtet wie eine Glühbirnensonne. - Was haben Stier, Lichtträgerin und Glühbirne zu bedeuten? Gesteigert wird das rätselhaft Katastrophische des Bildes noch dadurch, dass alles kubistisch fragmentiert und streng in Schwarz und Weiß und Grau gehalten ist.

Die Hundertschaften von Touristen, die täglich in Madrids Museo Reina Sofía zu diesem Bild pilgern, werden denn auch stets etwas ruhiger und nachdenklicher, wenn sie vor diesem Menetekel der Gewalt stehen. "Guernica" ist das größte, bekannteste und erschreckendste Bild von Pablo Picasso und eines der berühmtesten Gemälde der Moderne.

"Guernica" ist aber auch eine linke Ikone, der Kunst gewordene Protest gegen Krieg und Faschismus, gegen Franco und den Spanischen Bürgerkrieg. Denn der Titel meint die gleichnamige baskische Kleinstadt, die am 26. April 1937 von deutschen Bombern zerstört wurde. Hitler hatte den Angriff zur Unterstützung Francos angeordnet. Die Opfer dieses Massenmordes waren vor allem Frauen und Kinder, die öffentliche Empörung ging um die Welt.

Picasso hat "Guernica" vor 80 Jahren im Mai 1937 für die Pariser Weltausstellung gemalt. Das Bild durfte nach dem Willen des Künstlers erst nach Francos Tod nach Spanien kommen, seit 25 Jahren hängt es im Reina Sofía. Dort wird es in der Dauerausstellung als Fanal gegen Faschismus und Krieg inszeniert. Genauso wie jetzt in der zum Doppeljubiläum veranstalteten Schau "Piedad y terror en Picasso" (Mitleid und Schrecken bei Picasso), die die gängige Deutung um den im Titel formulierten bildungsbürgerlichen Bezug zur Tragödiendefinition bei Aristoteles bereichert, ansonsten aber keine neuen Erkenntnisse zu bieten hat.

Kunstfreunde fragten sich schon immer, was das Gemalte mit dem Angriff auf die Stadt zu tun habe

Die Ausstellung würde den Weg nach Madrid also eigentlich nicht lohnen. Doch gerade hat Jörg Martin Merz, er ist Professor für Kunstgeschichte in Münster, ein kleines Bändchen vorgelegt, in dem er nachweist, dass "Guernica" nichts mit Guernica zu tun hat. Das wirkt erst mal wie Ikonoklasmus, wie Aufmerksamkeitsheischen. Aber nach Lektüre der 60 Textseiten, die durch stattliche 327 Fußnoten abgesichert sind, reist man befreit und begeistert nach Madrid, um "Guernica" völlig neu kennenzulernen.

Kunsttheoretiker und Kunstfreunde hatten schon immer Schwierigkeiten, den Titel des Bildes mit dem Gemalten zusammenzubringen. Keine Flugzeuge sind zu sehen, keine Bomben, keine Soldaten, keine Franquisten. Pferd, Stier, Vogel, Lichtträgerin, Glühbirne und die Überreste des altertümlichen Kriegers mit Schwert werfen etliche Rätsel auf. Was soll das alles mit der Bombardierung von Guernica zu tun haben?

Jörg Martin Merz ist beim Grübeln über diese ungelösten Fragen auf eine erhellende Erklärung Picassos vom Mai 1937 gestoßen: "In dem Bild, an dem ich arbeite und das ich Guernica nennen werde, und in allen meinen jüngst entstandenen Werken drücke ich deutlich meine Abscheu vor der militärischen Kaste aus, die Spanien in ein Meer von Leid und Tod gestürzt hat." Eine ähnliche Formulierung findet sich in einem französischen Zeitungsartikel, der Picassos Intention so zitiert: "Akt des Abscheus vor dem Attentat, dessen Opfer das spanische Volk ist."

Picasso aber ist immer auch der Maler seiner intimsten Leidenschaften

Mit der "militärischen Kaste" und dem "Attentat" ist der rechtskatholische Militärboss Francisco Franco gemeint, der am 17. Juli 1936, das Datum ist jedem Spanier geläufig, von Marokko aus gegen die Republik und die gewählte linke Regierung putschte. Es folgte ein dreijähriger Bürgerkrieg, den die Republik verlor. Dass Picasso den Putschisten Franco hasste, beweist der derbe Comicstrip "Sueño y mentira de Franco" (Traum und Lüge Francos). Im Januar 1937 zeichnete Picasso 14 Radierungen, die den zukünftigen Diktator als molluskenhaften Popanz mit Schwert und Standarte auf verschiedenen von ihm geschundenen Reittieren zeigt: Pferd, Riesenphallus, Schwein. Zuletzt wird der mit seinem Reittier eins gewordene Militärhänfling dann von einem Stier aufgeschlitzt.

Das alles ist nichts anderes als hasserfüllte Propaganda. Wenige Tage bevor Picasso mit "Guernica" begann, überarbeitete er "Sueño y mentira" und fügte im Juni 1937 weitere vier Szenen mit Frauen hinzu, die aus der "Guernica"-Bildwelt abgeleitet sind. Der Bezug zwischen beiden Werken wurde schon immer gesehen und ist offensichtlich: Jedes zeigt den Sturz eines gestrigen Militärs durch einen Stier. Das wird, bessere Kunst ist immer vielschichtig, in "Guernica" überlagert und ergänzt durch das Motiv des gestürzten Reiterstandbilds. Merz zitiert dafür eine Reihe von Beispielen, die auch Picasso gekannt haben muss.

Im Gegensatz zu "Sueño y mentira" ist "Guernica" jedoch frei von Ressentiments und Hass. Versöhnlich drückt Picasso dem toten Krieger eine Blume in die Hand, der Stier enthält sich jeden Triumphes. Die Lichtträgerin, für die nicht nur Merz Auguste Bartholdis New Yorker Freiheitsstatue als Vorbild ausmacht, staunt ungläubig über das Geschehen, genauso die Frau, die mit ihr hereingelaufen kommt. Hier formuliert Picasso seine Utopie: die bald schon enttäuschte Hoffnung auf die Niederschlagung des Franco-Putsches.

Mit Merz' Interpretation im Kopf kann man "Guernica" in Madrid ganz neu kennenlernen

Den größten Widerspruch wird Merz mit seiner Deutung der Kind-Frau-Stier-Gruppe links im Bild ernten. Anders als für alle anderen Bilddeuter ist für Merz das Kind nicht tot, sondern während des Stillens eingeschlafen. Zudem sieht er eine erotische Beziehung zwischen der Frau und dem Stier, die sich in der Nähe von Maul und Mund, von Hodensack und Brüsten realisiert. Das mag empören, scheint doch das Pathos des Antikriegstitels "Guernica" mit Zoophilie nicht vereinbar zu sein. Picasso aber ist immer auch der Maler seiner intimsten Leidenschaften. In der 1935 entstandenen Radierung "La Minotauromachie", einem seiner großen Meisterwerke, findet sich mit Pferd, Lichtträgerin, Stier(mensch) und Frau das gleiche Personal wie in "Guernica".

Schon in der früheren Radierung denkt Picasso das zentrale Personal des Stierkampfs konsequent weiter. In "Guernica" geht er dann noch weit darüber hinaus. In der "Minotauromachie" liegt eine Stierkämpferin, in der Picassos damalige Noch-Geliebte Marie-Thérèse Walter zu erkennen ist, nackt und ohnmächtig auf dem Pferd, das von dem Minotaurus mit einem Schwert bedroht wird. So mischen sich Privates, Mythisches und Erotisches genauso wie in "Guernica", wo die Frau mit Kind ein Hinweis sein könnte auf die mittlerweile von Picasso verlassene Marie-Thérèse.

Mit diesen Neuinterpretationen im Kopf wird "Guernica" im Reina Sofía zu einer spannenden Neuentdeckung. Wie unter Zwang muss der Betrachter wieder und wieder vor das Bild treten, um immer tiefer in dessen zwischen Hoffnung und Entsetzen schwankender Schwarz-Weiß-Welt zu versinken.

Am Rande nur wird ihn dabei die Frage beschäftigen, ob der Titel "Guernica" wirklich falsch ist. Was, wenn Picasso seiner Gewohnheit folgend dem Bild überhaupt keinen Titel gegeben hätte? Wäre "Guernica" dann zu jener Ikone der Kunst und des Protestes geworden? Oder wäre es einfach nur als ein typisch modernes Rätselbild in einem Museum verstaubt, das allenfalls akribische Forscher wie Jörg Martin Merz hätten entschlüsseln wollen?

Doch da gab es den Dichter, Kunsthändler und Picasso-Freund Paul Éluard, der von der Bombardierung Guernicas derart betroffen war, dass er zu "Sueño y mentira" eines seiner berühmtesten Gedichte schrieb, "La victoire de Guernica". Picasso war davon nicht erbaut, er schrieb ein eigenes Gedicht zu seinen Radierungen. "Guernica" aber war das Thema der Stunde, die Assoziation unvermeidlich. Weil die Entstehung des Bildes zufällig mit der Bombardierung Guernicas zusammenfiel, weil sich viele von Picassos links-intellektuellen Freunden über dieses Kriegsverbrechen entsetzten und das großformatige Gemälde ganz selbstverständlich als Protest gegen diese Barbarei empfanden. So war es letztlich ein Glücksfall, dass "Guernica" nicht unter dem sperrigen Titel "Akt der Abscheu vor dem Attentat, dessen Opfer das spanische Volk ist" in die Kunstgeschichte eingegangen ist.

Jörg Martin Merz: Guernica oder Picassos "Abscheu vor der militärischen Kaste". Rombach Verlag, Freiburg 2017. 88 S., 18 Euro. Piedad y terror en Picasso. Museo Reina Sofía, Madrid. Bis 4. September. Katalog 35 Euro.

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