Oscar-Nominierungen:Fiktion verschmilzt mit Fakten

Tom Hanks

Szene aus dem Film "Captain Phillips" - auch hier vermischt sich Wahres mit Fiktion

(Foto: AP)

Mehr als die Hälfte der Werke, die bei den Oscars als "Bester Film" nominiert sind, werben damit, auf einer wahren Begebenheit zu basieren. Warum sind diese Filme derart beliebt? Und vor allem: Was stellen sie mit dem Zuschauer an?

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Als Regisseur Ron Howard vor fast 20 Jahren einem Testpublikum seinen Film "Apollo 13" präsentierte, erhielt er einen Zettel, auf dem nur zwei Sätze vermerkt waren. Der erste lässt sich frei übersetzen mit: "Noch mehr Hollywood-Käse!" Der zweite lautete: "Niemand hätte das jemals überlebt." In dem mittlerweile berühmten Film thematisiert Howard die Schwierigkeiten eines Fluges zum Mond und Tom Hanks schickt den berühmten Satz nach Houston, dass es da ein Problem gäbe. Die Astronauten können jedoch improvisieren und zur Erde zurückkehren. Ein fröhliches Ende also.

"Der Zuschauer wusste nicht, dass es sich um eine wahre Geschichte handelte", sagt Howard. Das habe ihm eröffnet, welches Potenzial in Stoffen stecken würde, die auf einer wahren Begebenheit basieren: "Man kann eine Geschichte erzählen, die einem keiner glauben würde, wenn sie nicht tatsächlich passiert wäre." Im vergangenen Jahr präsentierte Howard erneut so eine Story: "Rush" handelt von der Rivalität der Formel-1-Piloten James Hunt und Niki Lauda und dem schrecklichen Unfall von Lauda im Jahr 1976 auf dem Nürburgring.

Der Film ist nicht auf der Liste jener neun Werke zu finden, die bei der Oscar-Verleihung in der Kategorie "Best Motion Picture" nominiert sind - wohl aber sechs andere, die auf einer wahren Begebenheit basieren: "The Wolf of Wall Street" behandelt das ausschweifende Leben des Investmentbankers Jordan Belfort, in "Captain Phillips" geht es um die Entführung eines Schiffes durch somalische Piraten, "12 Years a Slave" basiert auf der Geschichte von Salomon Northup, der in die Sklaverei verkauft wurde. Ebenfalls nominiert: "Dallas Buyers Club", "American Hustle" und "Philomena".

Das Publikum meint, eine Figur schon zu kennen

Warum sind diese Filme derart beliebt? Howard glaubt, dass es daran liegt, dass sich die Menschen an einen Vorfall oder eine Nachricht in der Zeitung erinnern, jedoch nicht die komplette Geschichte kennen: "Das sorgt für Neugier - ein Filmemacher kann sich des Themas annehmen, es ausführlich behandeln und für Überraschungen sorgen." Gerade kam "Monuments Men" mit George Clooney in die Kinos, in dem es um die Wiederbeschaffung von durch Nazis geraubte Kunst geht. "One Chance" behandelt die Geschichte des Handyverkäufers Paul Potts, der in einer Talentshow für Aufsehen gesorgt hatte. Und noch in diesem Jahr kommt der Film "Unbroken" von Angelina Jolie in die Kinos, darin überlebt ein früherer Olympionike während des Zweiten Weltkriegs 47 Tage auf einem Floß.

Es hilft bei der Entwicklung der Protagonisten, wenn der Zuschauer bereits mit ihnen vertraut ist. Der britische Filmwissenschaftler Murray Smith beschreibt das in seinem Buch "Structure of Sympathy". Es ist leichter, eine Figur zu entwickeln, wenn das Publikum glaubt, sie bereits zu kennen. Wenn es also schon mal von Niki Lauda, Jordan Belfort, Walt Disney ("Saving Mr. Banks"), Nelson Mandela ("Mandela: Der lange Weg zur Freiheit") oder Jackie Robinson ("42") gehört hat - und nun mehr wissen möchte, entweder über das komplette Leben dieses Protagonisten oder nur über einen Aspekt.

Es ist ein Spiel mit der vagen Erinnerung und dem Halbwissen der Zuschauer, sie betten bekannte Figuren und Ereignisse in eine Geschichte ein, die oftmals gar nicht mehr so viel mit der Realität zu tun hat. Vor dem Film "American Hustle" etwa war auf der Leinwand der Satz "Some of this stuff actually happened" zu sehen - ein bisschen was von dem Zeug ist tatsächlich passiert.

Manchmal mit schmalziger Soße begossen

Derzeit wird in den USA heftig über den Wahrheitsgehalt mancher Werke diskutiert. Die Zuschauer werden angelockt mit der Aussicht, dass sie erfahren, wie das wirklich gewesen ist mit diesem Butler im Weißen Haus, mit der Entführung von Schiffen - oder wie Walt Disney die Autorin P.L. Travers dazu gebracht hat, ihn "Mary Poppins" verfilmen zu lassen. Bisweilen wird über wahre Begebenheiten eine schmalzige Hollywood-Soße gegossen, manchmal wird sie dazu benutzt, um einen größeren Themenkomplex zu behandeln wie etwa "The Butler", der letztlich weniger das Leben des Bediensteten im Weißen Haus thematisiert als vielmehr die Menschenrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten. Hin und wieder werden faszinierende Figuren einfach erfunden wie der von Jared Leto verkörperte Transsexuelle in "Dallas Buyers Club".

Heikel wird es - und darum drehen sich die Debatten gerade -, wenn Fakten oder Personen komplett falsch dargestellt werden wie im Fall des Films "Captain Phillips". Tom Hanks verkörpert darin Richard Phillips, den Kapitän des Schiffes Maersk Alabama, das im April 2009 von somalischen Piraten gekapert wurde. Regisseur Paul Greengras beteuert zwar, dass der Film die Geschehnisse und auch die Rolle des Kapitäns "authentisch" sei - doch mittlerweile haben sich mehrere Besatzungsmitglieder anonym geäußert. Einer sagt: "Phillips war nicht der großartige Anführer, als der er im Film gezeigt wird. Niemand will mit ihm segeln." Phillips hätte bewusst Warnungen ignoriert und die Besatzung überhaupt erst in die missliche Lage gebracht.

Was die Zuschauer glauben

Was diese Filme mit dem Publikum anstellen, wird in der Sozialpsychologie als Sleeper-Effekt bezeichnet: Der Zuschauer wissen freilich, dass es sich bei Hollywood-Filmen nicht um Dokumentationen handelt, sondern um fiktive Werke - sie wissen auch, dass da nicht unbedingt die wahre Geschichte erzählt wird, dass Personen und Handlungsstränge erfunden sind. Langfristig jedoch wird das Gesehene gespeichert und die Quelle vergessen. Die Fiktion des Films verschmilzt mit Fakten.

Das führt dazu, dass die Zuschauer von "Captain Phillips" in einigen Jahren tatsächlich glauben könnten, dass dieser Richard Phillips ein Held war, dass der Butler Eugene Allen tatsächlich sah, wie seine Eltern auf einer Baumwollplantage erschossen wurden, dass sich Niki Lauda und James Hunt nicht besonders leiden konnten - oder dass Mark Zuckerberg Facebook aus Liebeskummer gegründet hat. Fiktion wird im Gehirn des Zuschauers zur Realität. Eine Lösung für dieses Problem gibt es nicht - es gibt lediglich die Forderung, das Prädikat "based on a true story" nicht mehr so leichtfertig zu vergeben.

Nur: Wo zieht man die Grenze? Einer der Favoriten ist "Gravity" - eine fiktive Geschichte, die jedoch laut Tina Fey auf einer anderen Ebene einen durchaus realistischen Hintergrund hat. Bei der Verleihung der Golden Globes im Januar sagte sie: "Es ist die wahre Geschichte, wie George Clooney lieber ins Weltall entschwebt und stirbt, als dass er eine Minute mit einer Frau seines Alters verbringt."

In der Nacht von 2. auf 3. März berichtet SZ.de live von der Oscar-Verleihung.

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