Orhan Pamuk im Gespräch:Orhan Pamuk: "Ich habe vor, in meinen nächsten Büchern noch feministischer zu sein"

Orhan Pamuk im Gespräch: "Es ist einfach ein gutes Buch": Orhan Pamuk bei einer Lesung aus seinem neuen Roman "Diese Fremdheit in mir" in München.

"Es ist einfach ein gutes Buch": Orhan Pamuk bei einer Lesung aus seinem neuen Roman "Diese Fremdheit in mir" in München.

(Foto: Catherina Hess)

Warum ist Orhan Pamuk in der Türkei erfolgreicher als je zuvor? Und wie sieht er seine Rolle als kritischer Intellektueller in seinem Heimatland? Der Literaturnobelpreisträger im Gespräch.

Interview von Luise Checchin

In seinem neuen Roman "Diese Fremdheit in mir" erzählt der türkische Schriftsteller und Literaturnobelpeisträger Orhan Pamuk die Geschichte eines Istanbuler Straßenverkäufers. 40 Jahre begleitet Pamuk seinen etwas unbeholfenen, aber gutmütigen Helden Mevlut Karataş. Er schildert, wie Mevlut sich in verschiedenen Berufen versucht, es aber nie zu Geld bringt. Wie er das falsche Mädchen entführt und trotzdem mit ihr glücklich wird. Es ist eine Geschichte über Liebe, Modernisierung und vor allem, wie die meisten von Pamuks Romanen, über die Stadt Istanbul.

SZ.de: Die Hauptfigur Ihres neuen Romans, Mevlut, verkauft "Boza", ein traditionelles, leicht alkoholisches Getränk. Er hat dabei mit allen Schichten der Istanbuler Gesellschaft zu tun. Der fiktive Mevlut ist nur fünf Jahre jünger als Sie. Erinnern Sie sich an einen Mevlut aus Ihrer Kindheit in Istanbul und wie Sie ihn wahrgenommen haben?

Orhan Pamuk: Sicher. Ziemlich am Anfang des Buches gibt es eine Episode, in der Mevlut von wohlhabenden Leuten in die Wohnung gebeten und von ihnen ausgefragt wird. So etwas in der Art ist auch in meiner Kindheit vorgekommen. Wir Kinder hörten den Boza-Ruf eines Verkäufers auf der Straße und bettelten unsere Großmutter an, uns welchen zu kaufen. Dann stand plötzlich ein offensichtlich sehr armer Mensch aus dem ländlichen Anatolien in unserer Wohnung, den wir innerlich bedauerten und dem meine Familie vielleicht etwas zu essen oder ein altes Kleidungsstück zusteckte. In der Art eben, wie reiche Menschen arme Menschen behandeln, wenn sie sich gut fühlen wollen.

Die allermeisten Protagonisten Ihrer bisherigen Romane kamen wie Sie aus einem intellektuellen Milieu. Ihr neuer Roman ist durchgehend aus der Sicht armer, hart arbeitender Menschen geschrieben. Warum dieser Perspektivwechsel?

Ich bin eigentlich immer bestrebt, über Menschen zu schreiben, die anders sind als ich. Ein Autor kann das machen. Die Kunst des Romans basiert ja gerade auf diesem starken menschlichen Talent, dass wir uns mit Menschen identifizieren, die nicht wie wir sind. Sie brauchen als Autor also keine Entschuldigung, um über eine Frau oder jemanden aus einer anderen sozialen Schicht zu schreiben.

Interessant, dass Sie Frauen erwähnen. Sie haben den Roman in Interviews als Ihr bisher feministischstes Buch bezeichnet. Es gibt starke weibliche Charaktere ...

Und ich habe vor, in meinen nächsten Büchern noch feministischer zu sein.

Aber ein Buch mit einer weiblichen Hauptfigur haben Sie bisher nicht geschrieben.

Das stimmt. Ich fantasiere manchmal darüber. Aber lassen Sie uns doch besser über das sprechen, was ich gemacht habe als über das, was ich nicht gemacht habe. Eines Tages werde ich das Buch schreiben, das Ihnen vorschwebt, versprochen.

Sie haben für diesen Roman viele Interviews geführt, mit Straßenverkäufern, Stromablesern, mit solchen Menschen, wie Sie sie im Roman beschreiben. Was war das Wichtigste, das Sie dabei gelernt haben?

Dinge, die Sie aus keinem Buch erfahren können. Ein Beispiel: Ich habe einen Straßenverkäufer interviewt, der Reis mit Hühnchen verkauft. Ich frage ihn, wo er den Reis und die Hühner kauft, wie er das Essen zubereitet. Er erzählt mir alles lang und breit. Am Ende des Gesprächs frage ich: "Und was ist mit deiner Frau?" Da antwortet er: "Oh, eigentlich ist sie diejenige, die alles einkauft und kocht." So liefen die Recherchen ab. Aber auch über diese Fakten hinaus habe ich viel gelernt. Ich weiß nicht genau wieso, aber wenn Ihnen jemand private Details aus seinem Leben erzählt, macht Sie das irgendwie demütig. Ich bereue, dass ich so etwas nicht schon viel früher gemacht habe.

Ich stelle mir vor, der Anspruch, möglichst authentisch zu sein, kann beim Schreiben eines Romans mitunter auch blockieren. War es schwierig, Authentizität und Fiktion miteinander zu vereinbaren?

Nein, ich habe in meinem Schriftstellerleben die gegenteilige Erfahrung gemacht. Je mehr ich über die Fakten weiß, desto leichter fällt es mir, mich durch sie hindurch zu navigieren und kreativ sein.

"Ich bin kein politischer Kommentator"

Wie Millionen andere zieht der Protagonist Mevlut in den 1960er Jahren aus dem ländlichen Anatolien nach Istanbul. Wie hat diese Gruppe von Einwanderern die Stadt seitdem verändert?

Ich würde nicht sagen "diese Gruppe von Einwanderern". Istanbul ist heute diese Einwanderer. Genau darum geht es in dem Roman. Diese Menschen haben die Stadt geprägt und sind von ihr geprägt worden. Obwohl sie einen bäuerlichen Hintergrund haben, den ich nicht unterschlagen möchte, sind sie durch und durch modern.

Was macht diese Modernität aus?

Die Modernität, die ich in diesem Buch beschreibe, hat weniger mit Erziehung oder Europäisierung zu tun. Modern heißt hier vielmehr, in dem Wald zu leben, den eine riesige, chaotische, sich verändernde Stadt darstellt. Es bedeutet, in der Menge verloren zu gehen, seine Individualität, die Fremdheit im eigenen Kopf zu empfinden und von kaum jemandem bemerkt zu werden. Als Mevlut nach Istanbul kommt, hat die Stadt 2,5 Millionen Einwohner, heute sind es 15 Millionen. Die immensen Veränderungen, die Mevlut in seinen 40 Jahren in Istanbul erlebt - in der Bevölkerungszusammensetzung, der Architektur, der Wirtschaft - haben auf ihn einen metaphysischen, schwindelerregenden Effekt.

Mevlut ist ein unpolitischer Mensch, er ist mit Konservativen und Kommunisten befreundet und will es jedem recht machen. Ist er in dieser Eigenschaft auch repräsentativ für die Mehrheit der Türken?

Mevlut ist nicht unbedingt unpolitisch, er versucht eher, der Politik aus dem Weg zu gehen. Die eine Hälfte der Kunden eines Straßenverkäufers kann säkular, die andere Hälfte konservativ eingestellt sein und er will es sich mit keinem verscherzen. Aber es ist sicherlich so, dass der türkische Jedermann sich nicht allzu sehr für Politik interessiert. Anstatt über das Weltgeschehen zu diskutieren, schaut er sich lieber seine tägliche Soap-Opera an.

Anders als Mevlut äußern Sie sich offen und häufig sehr kritisch zu politischen Themen - etwa zu dem Druck, der momentan auf Journalisten in der Türkei ausgeübt wird. Der Druck auf Sie ist aber in den vergangenen Jahren etwas zurückgegangen, haben Sie kürzlich gesagt. Woran liegt das?

Vor zehn Jahren wollte man mich umbringen, ich bin also sehr froh, dass der Druck etwas zurückgegangen ist. Außerdem bin ich kein politischer Kommentator. Die Menschen, die in der Türkei gefeuert oder inhaftiert werden, sind Menschen, die jeden Tag über Politik berichten. Darüber hinaus schützt mich wahrscheinlich auch meine Bekanntheit. So kann ich Sachen sagen, die sich andere vielleicht nicht zu sagen trauen.

"Diese Fremdheit in mir" ist Ihr bisher meist verkauftes Buch in der Türkei. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?

Sehen Sie, diese Frage wurde mir in der Türkei sehr häufig gestellt. Am Anfang war ich naiv und habe mir irgendwelche Ausflüchte ausgedacht, zum Beispiel, dass es an der Werbung liegen könnte. Dann machten die Journalisten daraus die Überschrift: "Weil Pamuks Bücher beworben werden, verkaufen sie sich". Mittlerweile bin ich das leid und sage nur noch: Meine Bücher werden gelesen, weil die Menschen die Geschichten lieben, die ich erzähle. Es ist einfach ein gutes Buch.

Könnte der Erfolg nicht auch damit zu tun haben, dass Sie diesmal eben über ein ganz anderes Milieu schreiben als bisher?

Es gibt ganz unterschiedliche Gründe für den Erfolg. Zum einen war das mein erstes Buch nach sechs Jahren. Dann hat die türkische Literatur in den vergangenen Jahren einen enormen Boom erlebt. Und ja, eine Erklärung, die oft genannt wird, ist, dass Mevlut ein Jedermann ist und sich der durchschnittliche türkische Leser mit ihm identifizieren kann.

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