Oratorium balbulum:Seit wann gibt's keine Zukunft mehr?

Oratorium balbulum: Die Wiener Philharmoniker bei der Aufführung von "Oratorium balbulum" mit (v.l.) Peter Simonischek (Sprecher), Iris Vermillion (Mezzosopran), Daniel Harding (Dirigent) und Topi Lehtipuu (Tenor).

Die Wiener Philharmoniker bei der Aufführung von "Oratorium balbulum" mit (v.l.) Peter Simonischek (Sprecher), Iris Vermillion (Mezzosopran), Daniel Harding (Dirigent) und Topi Lehtipuu (Tenor).

(Foto: Andreas Kolarik/SF)

Seit dem Ende des Kommunismus. Das "Oratorium balbulum" von Peter Eötvös und Péter Ésterhazy ist ein wilder Text- und Klangwirbel über Europa und sein Ende.

Von Michael Stallknecht

Wahrscheinlich wäre Péter Ésterhazy jetzt hier in Salzburg. Kann er aber nicht sein, weil er vor zwei Wochen im Alter von 66 Jahren gestorben ist. Sein "Oratorium balbulum", vertont von Péter Eötvös, wird nun im Großen Festspielhaus zum Nachlass. Doch wer deshalb Feierlichkeit erwartet, kennt den ungarischen Schriftsteller schlecht. Eine planvoll desaströse Veranstaltung ist dieses ziemlich ungeistliche, von Daniel Harding dirigierte Werk, ein nihilistischer Textwirbel aus den Jahren 2010 / 2011. Der auftretende Engel ist betrunken, seit er sich mit Friedrich Nietzsche über Gott unterhalten hat, was die Mezzosopranistin Iris Vermillion mit hinreißendem Mut zur verraucht-verruchten Chansonette darstellt. Und der Schauspieler Peter Simonischek als Erzähler hinterfragt von Beginn an die Möglichkeit des Erzählens selbst, wie es Ésterhazy in seinen Romanen immer getan hat. Der Chor des Ungarischen Rundfunks (Leitung: Zoltán Pad) weiß sowieso gar nichts, außer dass er dauernd Halleluja singen soll.

Das Einzige, was den Europäer am Leben erhält, ist die Angst vor dem sozialen Abstieg

Aber ein Halleluja komponiert sich nach Nietzsche nicht mehr so leicht, weshalb Péter Eötvös sich lauter Hallelujas von der Gregorianik über Mozart bis zum Gospel entliehen hat, ein postmodernes Sammelsurium wie der Text, der, wilder als andere von Ésterhazy, jede Behauptung sofort wieder dementiert, die Figuren zerrupft, ihnen en passant auch szenische Elemente und Gesten abverlangt, ohne je wirklich zum Theater zu finden. Am schlimmsten erwischt es den Tenor Topi Lehtipuu als Propheten. Er stottert, weil er zugleich zu wenig und zu viel zu sagen hätte, wird zu Notker Balbulus, dem stotternden Mönch aus dem Kloster St. Gallen, der im 9. Jahrhundert das europäische Halleluja miterfunden hat. Europa aber ist am Ende, fragmentiert wie dieses Oratorium balbulum, das "stotternde Oratorium", das schon qua Untertitel in "4 Fragmente" zerfällt. Überreste der europäischen Geschichte dringen herein, der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der Terror seit dem 11. September 2001. Über die Zukunft aber lässt sich nichts mehr sagen, denn "nach dem Ende des Kommunismus ist uns die Zukunft ausgegangen". Da wird der Nihilismus der Form doch noch zum Inhalt. Der Europäer sei endgültig vulgär geworden, so Ésterhazy, am Leben erhalte ihn nur die Angst, den eigenen Status quo zu verlieren. "Wir ziehen überall Zäune, wir umzäunen sogar die Zäune. Innerhalb der Zäune sind wir, außerhalb . . . ja die . . . die sind nicht wir." Peter Simonischek erfüllt die Worte mit seiner beeindruckenden Präzision, ohne bedeutungsschwanger zu werden.

Denn nach Bedeutung strebt auch die Komposition nicht mehr, nach großformalem Zusammenhang gar. Péter Eötvös komponiert nur den deutschsprachigen Auszügen des Textes hinterher, der im Original deutlich länger ist. Er gibt den Bruchstücken gestische Energie mit auf den Weg und die klanglich routiniert eingesetzten Möglichkeiten eines großen Orchesterapparats. Die Wiener Philharmoniker haben das Werk in eine Reihe integriert, mit der sie bei den diesjährigen Festspielen die ehrwürdige Galerie ihrer Uraufführungen beschwören, ein Stück europäischer Geschichte auch sie. Die Variationen über ein Haydn-Thema etwa, die Johannes Brahms 1873 in Wien uraufführte. Daniel Harding dirigiert sie nach der Pause als federleichtes, vielleicht etwas zu leichtgewichtig genommenes Intermezzo. Oder das Adagio, das Gustav Mahler als Kopfsatz seiner unvollendeten Zehnten Symphonie vorsah. Harding setzt auch da auf klangliche Transparenz, bleibt fast heiter, ohne die Emphase des Abschieds zu negieren. Wäre Mahler mehr Zeit geblieben, er hätte die Textur angereichert, nicht so nackt stehen lassen. So aber ist auch dieses Adagio Fragment geblieben, als Mahler mit 50 Jahren, in noch jüngerem Alter als Péter Ésterhazy starb.

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