Opernpremiere in London:Unendlich langsame Schönheit

Beseligend: Antonio Pappano dirigiert Vincenzo Bellinis "Norma", phänomenal gesungen von Sonya Yoncheva, in Londons Covent Garden und erfüllt Bellinis Melodiebögen mit unendlicher Sehnsucht.

Von Reinhard J. Brembeck

Die Frau (Norma) und der Mann (Pollione) haben sich längst all den Hass an den Kopf gesungen, den eine gescheiterte Beziehung überhaupt nur hergibt. Er hat eine Neue (Adalgisa), die er anhimmelt wie einst Norma, die zwei Kinder von ihm hat. Außerdem gehören beide verfeindeten Ethnien an, sie Gallierin, er Römer. Sie riskiert zudem mit dieser Mesalliance Kopf und Kragen, weil sie als Oberpriesterin ein Keuschheitsgelübde abgelegt hat. Doch jetzt, da alles gesagt und die einst so große Liebe völlig zerstört ist, findet die Frau mit einer unerwarteten Geste zurück zu dieser Liebe. Sie wird zusammen mit ihrem Ex-Lover in den Tod gehen. Dass der nun wieder die Qualitäten seiner Ex entdeckt, versteht sich. Opern-Happy-End.

In Londons Royal Opera House sind sich in diesem Moment Sonya Yoncheva und Joseph Calleja auf der Bühne so gar nicht nahe, als sie eines der schönsten Terzette der Musikgeschichte singen. Vincenzo Bellinis "Qual cor tradisti" (Welches Herz du verraten hast), dessen langsam sich aufschwingende Klage beständig melancholischer wird und schmerzdurchwirkter, ist für den Zuhörer in London kaum zu ertragen. Wie immer bei Bellini gerinnt in diesem Terzett (Normas Vater und der Chor sind mit von der Partie) die Zeit: Ein emotional besonders intensiver Moment läuft ab in einer irrsinnig langsamen Slow Motion. Bevor das Drama dann wieder in Realzeit auf sein schauriges Scheiterhaufenende zurast.

NORMA_ROH, Conductor; Antonio Pappano, Norma; Sonya Yoncheva, Pollione; Joseph Calleja, Adalgisa; Sonia Ganassi Oroveso; Brindley Sherratt, Flavio; David Junghoon Kim, Clotilde; Vlada Borovko,

Ganz allein muss sie es richten: Die Hohepriesterin Norma (Sonya Yoncheva) im Zwiespalt zwischen Keuschheitsgelübde, Mutterschaft und einer gescheiterten Liebe.

(Foto: Bill Cooper)

Sonya Yoncheva als Norma erobert sich seit sechs Jahren die großen Häuser, mit einer leichten, schnellgängigen Sopranstimme, die auch in den höchsten Höhen noch angenehm ist. Als Anna Netrebko die Titelrolle in dieser Produktion zurückgab, ihre Stimme ist mittlerweile zu schwer für diese Partie, war es geradezu unausweichlich, Sonya Yoncheva zu verpflichten. Sie ist eine moderne Sängerin, die alberne alte Operngesten selbst noch in Inszenierungen vermeidet, die diese herausfordern. So auch in London. Àlex Ollé hat Regie geführt, Mitglied der einst wilden Anti-Theatermacher-Truppe La Fura dels Baus. Doch seit sie vor 20 Jahren die Oper entdeckt hat, ist es mit der Anti-Theatermacherei vorbei. Mit gepflegtem Desinteresse an Psychologie und Personenführung überlassen die Furisten die Sänger sich selbst und konzentrieren sich auf spektakuläre Bühnenbilder. So auch in London.

Das führt einerseits zu szenischem Bankrott, andrerseits aber wird auf überwältigendem Niveau musiziert. Vor allem weil Antonio Pappano, der Musikchef des Hauses und einer der besten Dirigenten weltweit, im Graben steht. Normalerweise werden die frühromantischen Stücke von Bellini, Gaetano Donizetti und Gioacchino Rossini, die sogenannten Belcanto-Opern, nicht von erstklassigen Dirigenten aufgeführt. Weil da zwar der Gesang überbordend flutet, die Rolle des Orchesters aber bescheiden ist. Ein Dirigent, der bei Richard Wagner, Giuseppe Verdi oder Alban Berg mehr als alle Hände voll zu tun hat, ist hier vermeintlich unterfordert. Weshalb allzu oft nur Pultroutiniers mit diesen Stücken betraut werden.

Pappano lädt Bellinis Melodien mit unerfüllbarer Sehnsucht nach dem irdischen Paradies auf

Pappano aber ist stets inspiriert, er erforscht konsequent dieses oft wegen seiner verspielten Harmlosigkeiten belächelte "Belcanto"-Repertoire. So ist in jedem Takt zu hören, warum er mit "Norma" die Londoner Spielzeit eröffnet. Wegen Bellinis unendlicher Melancholie, die noch abgrundtief hoffnungsloser ist als die von Franz Schubert. Wegen der hier betriebenen radikalen Auflösung der barocken Nummern-Oper, was Wagners Bestrebungen vorwegnimmt. Zwar sind noch unschwer Arien, Duette und Chöre zu erkennen. Aber die Übergänge von einem zum anderen sind von einer untergründigen psychologischen Raffinesse.

Genau diese Übergänge stellt Pappano in den Mittelpunkt. Er lädt sie mit einer unerfüllbaren Sehnsucht nach dem irdischen Paradies auf, die er selbst noch den banalsten Begleitfloskeln abgewinnt. Dazu gibt Pappano, ohne Taktstock und daher umso beredt feinstufiger dirigierend, eine ganz große Ruhe, ein untrügliches Gefühl für Proportionen und manchmal auch verheerende Dramatik: Fertig ist das Wunder.

Ein solcher Dirigent ist für jeden Sänger ein Gottesgeschenk. Das es aber zu nutzen gilt. Sonya Yoncheva nutzt es von Anfang an. Joseph Calleja geht erst nach und nach von seinem brillanten Dauerschönton ab, gestaltet mehr und mehr die Details, nutzt die dynamischen Möglichkeiten, die Pappano ihm eröffnet.

NORMA_ROH, Conductor; Antonio Pappano, Norma; Sonya Yoncheva, Pollione; Joseph Calleja, Adalgisa; Sonia Ganassi Oroveso; Brindley Sherratt, Flavio; David Junghoon Kim, Clotilde; Vlada Borovko,

Es dominiert (Spanisch-) Katholisch-Kriegerisches: Priesterornat, Militäruniformen und der riesige Weihrauchkessel Botafumeiro, das spektakuläre Symbol der Wallfahrtskirche in Santiago de Compostela.

(Foto: Bill Cooper)

Ach, wie schön wäre es gewesen, wenn der Regisseur diesen Gesangsporträts ein szenisches Pendant auf Augenhöhe beigesellt hätte! Àlex Ollé begnügt sich allzu bescheiden mit dem Bühnenbild von Alfons Flores, der Hunderte Kruzifixe bis zum Schnürboden hinauf auftürmt und daraus sogar eine überdimensionale Dornenkrone formt. Auch sonst dominiert (Spanisch-)Katholisch-Kriegerisches mit Priesterornat, Militäruniformen, die die Franco-Zeit evozieren, sowie der riesige Weihrauchkessel Botafumeiro, das spektakuläre Symbol der Wallfahrtskirche in Santiago de Compostela, die eng mit dem Befreiungskampf gegen die muslimischen Besatzer verbunden ist. Das alles hat lose etwas mit der "Norma"-Story zu tun. Aber es bleibt bei oberflächlichen Parallelen.

So muss sich der Zuhörer selber erträumen, worum es letztlich geht. Das ist bei diesen Sängern nicht allzu schwer. Dabei wird der emanzipatorische Ansatz des Sujets offenbar: eine berufstätige Frau, ihr Mann, der sich einer anderen, weniger eingespannten Geliebten zuwendet, die Kinder als Scheidungsopfer. Das Ganze bezieht sich zudem kritisch auf den antiken Mythos von Medea, die, in der gleichen Situation wie Norma, die gemeinsamen Kinder tötet, aus Rache am Mann. Norma, eine moderne Frau und keine antike Heldin mehr, verweigert sich im letzten Moment diesem Morden.

Yoncheva, Calleja und Pappano meiden Pathos und Rührseligkeit. Sie betreiben nüchtern eine immer grundsätzlicher in die Tiefe gehende Analyse der Paarbeziehung, bis deren tiefste Wurzeln hör- und damit erkennbar werden. Neben dieser Tiefseelenbohrung bleibt die souveräne Sonia Ganassi als Adalgisa genauso außen vor wie der statuarische Brindley Sherratt, Normas Vater.

Calleja zeichnet mit italienisch weich eingefärbtem Tenor einen durch die Emanzipation tief verunsicherten Latin Lover. Yoncheva leuchtet ihre Vokale härter, fahler aus, sie signalisiert eine Frau, die Beruf, Familie und Heimlichtuerei nur geradeso noch verbindet. Wenn sie sich zuletzt öffentlich des Landesverrats anklagt und damit ihr Todesurteil provoziert, wohnt dem lang in der Höhe ausgehaltenen "Son io" gar keine Verzweiflung, sondern unendliche Erleichterung inne. Nun können sich Norma, Pollione und Pappano im von allen irdischen Bindungen befreiten "Qual cor tradisti" finden, das die Seligkeit dieses Abends krönt.

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