Oper:Wagner, der Rattenfänger

Bayreuther Festspiele 2017 - Die Meistersinger von Nürnberg

Wie kann man in der Figur des Beckmesser keine Karikatur eines Juden erkennen? Sänger Johannes Martin Kränzle mit Maske, die er später ablegt.

(Foto: Enrico Nawrath/dpa)

Bei der bejubelten Eröffnung der Bayreuther Festspiele nimmt der jüdische Regisseur Barrie Kosky die "Meistersinger" als komische Oper ernst - und lässt sie bei den Nürnberger Prozessen enden.

Von Reinhard J. Brembeck

Ein Schriftzug in verwaschener Schreibmaschinentypografie informiert das Publikum schon während der Ouvertüre darüber: Wir befinden uns gerade im Jahr 1875 und blicken in den menschenleeren Salon von Richard Wagners Bayreuther Villa Wahnfried. Der Meister geht gerade mit seinen Hunden Gassi. Und seine Gattin Cosima liegt mit Migräne im Bett. Zudem werden erwartet und erscheinen auch bald: Cosimas Vater, der Komponist Franz Liszt, sowie der Erzwagnerianer und Stardirigent Hermann Levi, der 1882 den "Parsifal" als die erste Bayreuther Uraufführung dirigierte.

Was sich wie ein fades, hagiografisch-historisches Setting liest, gerät dem Regisseur Barrie Kosky - er leitet die Komische Oper in Berlin und ist als frecher, musicalverliebter Theatermacher berühmt - zu einem aufgedrehten Musikkabarettklamauk. Allerdings lässt dieser brillante Beginn erst einmal die eher beiläufig und pauschal vom Dirigenten Philippe Jordan im Orchestergraben angeleitete Musik vergessen. Aber das Publikum im Bayreuther Festspielhaus amüsiert sich zur Eröffnung der Festspiele köstlich mit den sonst gern drögen, langatmigen "Meistersingern von Nürnberg". Das Stück firmiert zwar als komische Oper, durfte es aber nie sein - bis es Barrie Kosky in die Hände fiel.

Cosima hat Migräne, und die Familie spielt "Deutschland sucht den Superstar"

Der Baritonsänger Michael Volle gibt hinreißend verdruckst den Haustyrannen, Ego-Exzentriker, Antisemiten und Hobbystaats- und Kunsttheoretiker Richard Wagner. Dessen Hunde sind so knuddelsüß wie seine Kinder, seine exaltierte, überempfindliche Gattin Cosima ist ganz die verhuschte Gefährtin seiner Größe. Wenn der Dramatiker Henrik Ibsen Komödien hätte schreiben können, dann würden sie so ausgesehen haben. Und Kosky setzt noch eins drauf, indem er alles wie eine Parodie auf sich ohnehin selbst parodierende Shows à la "Deutschland sucht den Superstar" inszeniert. So werden selbst viereinhalb "Meistersinger"-Nettomusikstunden zum Rasanttheater.

Doch trotz aller spießigen, urfränkischen Gemütlichkeit ist dieses Stück kein Familien-, sondern ein Arbeitstreffen - wie es so nie stattgefunden hat. Aber das kümmert den Unterhaltungsgroßmeister Kosky natürlich ganz und gar nicht. Die historischen Figuren sind ihm Abschussrampe für seine Bühnenwitze und eine zunehmend perfide Familienaufstellung, die an der Mischpoke der Wagners kein gutes Haar lässt. Bei Barrie Kosky probt Wagner in der Villa Wahnfried die "Meistersinger", und alle müssen mitmachen. Er selbst gibt den schuhmachernden Pop-Poeten Hans Sachs, seine Cosima die etwas unbedarfte und dauerverliebte Eva, Liszt deren Vater Veit Pogner und Hermann Levi den Chefkritiker und Pedanten Beckmesser.

Aber ganz so schlicht eins zu eins geht es Gott sei Dank nicht weiter. Kosky hat nämlich genau gesehen, dass sich der durchaus nie uneitle Wagner in den "Meistersingern" gleich zweimal selbst porträtiert. Einmal in dem längst gesellschaftlich etablierten alten Volkstribunen Hans Sachs, zum anderen in dem jungen Schnöselavantgardisten und Menschheitsverächter Stolzing, der mit seiner Kunst alle vor den Kopf stößt. Schließlich trat Wagner, der als Musiker ein spätberufener Außenseiter war, ja selbst so an, und er hat sich wohl immer einen Sachs als väterlichen, verständigen Förderer seiner Kunst gewünscht.

Der Sänger Klaus Florian Vogt, es ist eine seiner großen Meisterleistungen, gibt den Stolzing lässig und präpotent. Phänomenal, wie unangestrengt er die horrend schwere Partie hinkriegt, bei der seine Kollegen regelmäßig um ihre Contenance kämpfen. Vom Charakter wie von der Melodik her ist der Stolzing von Wagner als ein typisch italienischer Tenor-Macho angelegt, ironischerweise in einer vom Text her so entschieden deutschnationalen Oper, die ausgiebig gegen die "welsche", also die italienische und französische (Musik-)Kultur geifert. Vogt könnte noch etwas stringenter in der Linienführung sein und auch etwas mehr Tonmasse liefern, um diesen Widerspruch noch deutlicher zu machen.

Der erste große musikalische Höhepunkt ereignet sich kurz nach Beginn und zudem in einer Partie, mit der noch niemand je überzeugen musste. Die Rede ist von Daniel Behle, der die große gesangstheoretische Abhandlung - eine sehr unsinnliche Gattung - des Lehrlings David zu einer überwältigenden Charakterstudie verdichtet. Bei Behle verzweifelt ein von den Lehrern malträtierter Schüler an einem längst aus der Mode gekommenen, kunstfernen Dogmensystem, das nur mehr als pädagogisches Folterinstrument gebraucht wird, um jede Eigeninitiative zu ersticken. Jeder Ton ist dabei eine kunstvoll gedrechselte Offenbarung. Schade nur, dass der Dirigent Philippe Jordan, wie oft an diesem Abend, nie so recht auf seine Sänger eingeht und auch gern eine Spur zu laut ist.

Schade auch, dass Barrie Kosky mit den von Wagner bis zur Erschöpfung zelebrierten kunsttheoretischen Diskursen dieser Oper so gar nichts anzufangen weiß, obwohl die für den Komponisten ein zentrales Anliegen sind. Wagner versucht sich im künstlerischen Selbstresümee gleich an einer Reihe von Unmöglichkeiten: Er will Avantgarde (Stolzing) mit Tradition (Meistersinger) aussöhnen, Pop- mit Hochkultur, Raffinesse mit Ballermann. Das wird zwar als möglich behauptet, geht aber in der Bühnenwirklichkeit grundlegend schief. Deshalb sind die "Meistersinger" jenes geniale, typische Sammelsurium von Unvereinbarkeiten.

Die Gemütlichkeit gebiert bald Ungeheuer

Kosky aber lässt die Theorie Theorie sein. Sie interessiert ihn nicht, und so werden viele dieser Passagen einfach nur so brav gesungen, wie sie brav gespielt werden. Bald aber hüpfen, wie für einen fränkischen Faschingsball in Mittelalterkostüme gekleidet (Monty Python lässt grüßen), die Meistersinger samt Anhang über die Bühne. Sie scheinen direkt von einer Rauchbierparty zu kommen. Dass dieser Karnevalstrupp dann keine besonders strukturierte Vereinssitzung hinbekommt, versteht sich. Dass das irrsinnig lange Palaver der Zwölfertruppe aber auch musikalisch kaum strukturiert wird, ist ermüdend.

Michael Volle gelingt als Hans Sachs das vielschichtigste Porträt dieses lange bejubelten Abends

Die Gemütlichkeit, die sich seltsamerweise weder in Spiel noch Kostümierung so recht von Wolfgang Wagners vor zwanzig Jahren in Bayreuth herausgekommenen "Meistersingern" unterscheidet, gebiert bald ein Ungeheuer. Ihr Opfer ist Beckmesser alias Hermann Levi, der von Wagner im wirklichen Leben als Dirigent ausgenutzt und mit aller dem Genie zur Verfügung stehenden kleinbürgerlichen Niedertracht als Jude erniedrigt wurde.

Seit Jahrzehnten liest man in der Wagner-Literatur, dass zwar Wagner ein mieser Antisemit war, es in seinen Opern aber keinen Antisemitismus gebe. Allerdings hat Wagner den Beckmesser bei der "Meistersinger"-Genese von einer Judenkarikatur zum unbegabten Unsympathen entwickelt, für den er nie auch nur einen Ton voller Sympathie aufbringt. Dafür hat der einer jüdischen Familie entstammende australische Regisseur Barrie Kosky ein feines Ohr. Er zeigt wie Beckmesser/Levi zuerst von Wagner/Sachs getriezt und dann zum Pogromopfer des heiligen deutschen Volkes wird. Am Ende wird Beckmesser, dem Wagner zu allem Überdruss auch noch hämisch gezierte Tänzchen mitgibt, von dem durchaus auch schadenfrohen Sachs öffentlich als Kunstversager vorgeführt. Genauso, wie Wagner das mit Mendelssohn und Meyerbeer gemacht hat.

Bei diesem mit Kunstreligion verbrämten Parcours der Erniedrigung wird Beckmesser, und das ist von Kosky genial gesehen, nach und nach zu jener Judenkarikatur, die Wagner und seine Anhänger mindestens bis hin zu Hitler für die Wirklichkeit hielten. Boshafterweise erscheint eine solche Judenkarikatur als ein Riesenballon im zweiten Akt. Und weil Johannes Martin Kränzle den Beckmesser/Levi so gar nicht effektheischend und auftrumpfend hinstellt, sondern verinnerlicht skizziert, weil dieser Mensch zudem der gängigen Judenhäme nichts entgegenzusetzen weiß, wirkt Koskys Analyse umso ätzender. Es ist von erschreckender Niedertracht, dass sich im hochkulturellen Ambiente Bayreuths der Antisemitismus derart naturalisieren konnte.

Bliebe da noch der Wagner/Sachs des Michael Volle. Diesem Sänger gelingt singspielend das vielschichtigste, widersprüchlichste und unaufdringlichste Menschenporträt dieses lange bejubelten Abends. Volle beginnt als ein allürenhafter Pantoffelheld, der die immer noch mädchenhafte Cosima der verhalten singenden Sopranistin Anne Schwanewilms noch einmal erobern will. Spürt er doch genau, dass die dem stürmischen Jung-Wagner von einst nachtrauert und mit dem gesetzten Großkünstler gar nichts mehr anfangen kann.

Bald spielt Volles Sachs/Wagner einen maßlosen Allmachtsanspruch aus. Er lässt alle nach seinem Gusto wie Marionetten agieren. Dass nur er allein weiß, was Kunst ist, zeigt sich schon wunderschön in der Ouvertüre. Da spielt Wagner, der ein mediokrer Pianist war, dem genialen Virtuosen Franz Liszt am Klavier vor, wie die vielen barocken Hüpfereien dieses Stücks zu spielen sind, die in einem wunderlichen Kontrast zu den vielen hochromantischen, emotionalen Passagen stehen.

Den dritten Akt haben Kosky und seine Bühnenbauerin Rebecca Ringst folgerichtig in den Sitzungssaal der Nürnberger Prozesse verlegt. Da erhebt sich Sachs mit seinem verschwiemelten Lob der Meister und der deutschen Kunst selbst zum Herrn der Welt - und dirigiert vor einem von hinten hereinfahrenden Orchester auf der Bühne das tobende, affirmative Opernfinale. Damit krönt Michael Volle sein schonungsloses Wagner-Sachs-Porträt. Er zeigt einen kaum liebenswerten, aber von Selbstzweifeln geplagten Menschen, einen harmoniesüchtigen Kompromissler, der die Menschheit mit genialen Rattenfängerkünsten gewinnt und sich nicht scheut, Menschen wie Levi/Beckmesser erst auszunutzen und dann dem Volkszorn zu opfern. Damit hat Wagner bis heute großen Erfolg. Aber eines gelingt ihm bei Kosky nicht: Cosima lässt sich mit dieser Tour nicht wieder erobern. Sie entscheidet sich ein für alle Mal für den jungen, revolutionären Wagner.

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