Oper Stuttgart:Lauter Schamlosigkeiten

Rasant, virtuos - und von dramaturgischer Ironie begleitet: "Ariodante" von Händel wurde neu inszeniert und begeistert gefeiert.

Von Wolfgang Schreiber

Der Anfang betört - eine Theaterentlarvung: Gespielt nüchtern, optisch jedoch aufgetakelt, präsentiert sich das komplette Gesangspersonal eines vierstündigen Opernabends. Der Regisseur Jossi Wieler und sein Kompagnon Sergio Morabito lassen die Darsteller einzeln, wie bei einer Versteigerung, aus dunstiger Bühnentiefe heraus nach vorn an die Rampe sausen, damit sie sich mit schreienden Gesten dem Publikum als Rollenträger empfehlen.

Georg Friedrich Händels 1735 erschienene Oper um den jungen Ritter Ariodante und seine heiß ersehnte Prinzessin Ginevra in Schottland beginnt gegen jede Regel mit dem Happy End, der Hochzeit, die den Ritter auch zum schottischen Thronfolger machen wird. Nur, das Glück wird gestört, weil der Intrigant und Neider Polinesso, Herzog von Albany, und ein paar Regiezutaten die Liebenden auseinanderbringen und in Todeszonen befördern. Ungestört bleibt nur die Arien-Lawine Händels, die an der Oper Stuttgart selbst die Sänger zu berauschen scheint und den Dirigenten Giuliano Carella und das temperamentvoll reagierende Orchester zu Höchstleistungen mit stürmisch bewegten Tempi und fieberhaftem Artikulieren anstiftet.

Shakespeare und Richard Wagner haben sich abgearbeitet an dieser Erzählung um die verleumdete Frau, ihre Todesnähe und das rettende Gottesurteil. Die Geschichte stammt, lange vor "Viel Lärm um nichts" und dem "Lohengrin", von dem Renaissancedichter Ariost, der 1516 in sein Jahrhundertepos "Orlando furioso" auch diese tückisch verdrehte Liebesgeschichte eingebettet hat. Und so stürzt man sich in Stuttgart in den virtuosen Theateraktionismus, der den Gesangssolisten neben den Koloraturzirkusnummern eine rasante Spiellaune abverlangt.

Die Arien sind wunderbar - und werden von dramaturgischem Sarkasmus begleitet

Doch das Regieteam will nicht einfach nur eine Barockoper möglichst perfekt und unterhaltsam auf die Bühne bringen, man gräbt mit geübtem philologischen Spürsinn weiter und tiefer in die Text- und Epocheninterpretation hinein als die meisten Kollegen. Schon beim Blättern im randvollen Programmbuch fallen die verstreuten Sätze Jean-Jacques Rousseaus auf, die sich in anklagendem Tonfall mit dem Rollenbild der Schauspieler, besonders der Schauspielerinnen, beschäftigen: "Die Schamlosigkeit passt so gut zum Stand der Schauspielerin, und sie wissen das selbst so gut, dass es nicht eine unter ihnen gibt, die sich nicht lächerlich zu machen glaubte, als nähme sie die Reden von Weisheit und Ehre ernst..." Und Rousseau ergänzt: "Für die Frau gibt es außerhalb eines zurückgezogenen häuslichen Lebens keine guten Sitten." Diese Tiraden stammen aus dem 1758 veröffentlichten "Brief an d'Alembert über das Schauspiel" - Rousseau empört sich darüber, dass das calvinistische Genf ein Theater installieren will.

Auf der Bühne ist es der mephistofelische Zerstörer Polinesso, der im Rousseau-Buch liest, daraus rezitiert und so die frauenfeindliche Lektüre als dramaturgisches Gegenmittel der Ironie in Stellung bringt, um Händels wunderbare Arien, diesen Triumph der Gefühle, intellektuell zu konterkarieren. Ironie und Sarkasmus auch bei der Bild- und Kostümsprache Nina von Mechows: Bühnenbeherrschend ist das mächtige, sich senkende oder hebende Metallviereck als Beleuchtungsbrücke, Technikmonstrosität oder Turngerät für Versteckspiele, das im letzten Akt, dem Gottesgericht über Ginevras angebliche Untreue, sich in einen großen Boxring verwandelt.

Darauf liegt Ariodante und intoniert in Verzweiflung die längste und berühmteste Arie der Oper, das tiefsinnige "Scherza infida", Klage über den geglaubten Verrat der Geliebten und die Suche nach dem eigenen Tod, auch nach Rache. Die begleitenden assoziativen Videos hätte es zur Introspektion der Seelen, die in Händels Arien vor sich geht, nicht noch gebraucht.

Die Mezzosopranistin Diana Haller jedenfalls bewältigt die riesige Ariodante-Partie bravourös mit dem dunklen Glanz ihrer Stimme und ehrlicher Empathie. Wie überhaupt das Stuttgarter Händel-Ensemble, das nicht der Spezialgilde der Alten Musik angehört, mit entwaffnender musikalischer Könner- und Leidenschaft antritt: neben Diana Haller die glockenhell und beweglich agierende Ana Durlowski als Ginevra, Josefin Feiler als ihre törichte, doch hochmusikalische Hofdame Dalinda, der Countertenor Christophe Dumaux, der dem Polinesso aggressive Frechheit und Agilität mitgibt, schließlich Matthew Brook als zappelnder König und Sebastian Kohlhepp als verliebter Ariodante-Bruder Lurcanio. Stuttgarts Opernliebhaber waren begeistert.

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