Oper:Fettfreie Härte

Fromental Halévys Oper "La Juive" wird in Nürnberg von Regisseurin Gabriele Rech in ein Ambiente der Dreißiger Jahre verlegt und mit allen Insignien der Judenverfolgung, der Verwüstung, der Schändung, versehen.

Von Egbert Tholl

Fromental Halévys Oper "La Juive" - zu deutsch: "Die Jüdin" - markiert einen besonderen Punkt der Emanzipation. Vermutlich zum ersten Mal in der Operngeschichte treten hier Juden nicht als biblische Figuren auf, sondern sind Teil einer Gesellschaft, die zwar nicht ein Abbild der Gegenwart der Uraufführung von 1835 ist, aber sehr wohl als unmittelbare Metapher funktioniert. Möglich wurde dies letztlich durch die Julirevolution 1830 und die damit einhergehende, zumindest für eine gewisse Zeit bestehende, vollendete Gleichstellung der Juden in Frankreich. Und doch wählten Eugène Scribe, Chefdramatiker der Pariser Oper, und Halévy den Transfer ins Mittelalter, in die Zeit des Konzils von Konstanz, welches das Schisma der westlichen katholischen Kirche und damit das Doppelpapsttum beendete. Die Oper spielt also 1414, zu Beginn des Konzils, und setzt ein mit dem Sieg über die Hussiten - von Scribe in einer Art historischer Verdichtung eingefügt.

Man sollte nicht allen geschichtlichen Details hundertprozentig vertrauen; wichtig sind sie vor allem als weiterführendes Argument: Eine im Kern von Zweifeln erfasste Kirche - und mit ihr die ganze damalige Gesellschaft - feiert eine neu definierte Einheit und Stärke. Zu Beginn der Oper singt der Chor ein "Te deum". Und fühlt sich schnell gestört, weil der Jude Eléazar an diesem Feiertag arbeitet. Das Hämmern aus seiner Goldschmiedewerkstatt erregt den Zorn des Volks - Kardinal Brogni verhindert ein Pogrom. Der ließ einst zwei Söhne Eléazars hinrichten, verlor selbst aber im Krieg Haus, Frau und Tochter. So glaubt er. Doch die Tochter wurde aus den Flammen gerettet, lebt, sie ist Rachel, von Eléazar als die eigene Tochter aufgezogen. Kaum ist das eine Pogrom abgewendet, soll das zweite folgen - inzwischen ist die feiernde Menge angesoffen, singt von "Springbrunnen aus Wein" und will die Juden schänden, die der Kirche zu nahe kommen.

Alle Insignien der Judenverfolgung werden aufgeboten

Nun rettet sie Léopold, Held gegen die Hussiten; für Eléazar und Rachel ist er jedoch Samuel, der Maler. Er liebt Rachel, sie liebt ihn, aber er ist der Nichte des Kaisers versprochen. Am Ende, als die verbotene Liebe zu Tage tritt - Rachel gilt ja als Jüdin - wird Léopold verbannt, weil Rachel alle Schuld auf sich nimmt. Sie selbst wird ertränkt, und im Moment ihres Todes verkündet Eléazar dem Kardinal Brogni ihre wahre Identität - Verdi bediente sich 20 Jahre später an diesem Schluss für seinen "Trovatore". Die Handlung verweist auch auf Lessings "Nathan", die Figur des Eléazars auf Shakespeares Shylock: Er hasst die Christen, wird aber gleichzeitig von Scribe und Halévy als liebender Vater gezeichnet. Jede seiner ergreifenden Arien trägt beides in sich, zudem auch die Liebe zu dem Gott, der auch Halévys Gott war. Daneben tritt die Meisterleistung dieser Oper, Antisemitismus, die Brutalität eines dumpfen Mobs und die Möglichkeit eines - sich als Chimäre erweisenden - friedvollen Nebeneinanders der Religionen zu diskutieren, im Kern aber eine Liebesgeschichte zu erzählen, der gegenüber die Gestalt Eléazars und das christliche Dogma stehen. Rachel liebt Léopold wirklich, sie könnte sich retten, ließe sie sich, als Jüdin, die sie ja in Wahrheit nicht ist, taufen. Ihr Trotz ist selbstbestimmt und eher säkular; sie will sterben, weil ihr ein Leben ohne den Geliebten sinnlos erscheint.

Aus dieser Gemengelage heraus nimmt es wenig Wunder, dass "La Juive" derzeit oft gespielt wird - im Sommer dieses Jahres etwa wird eine Neuproduktion die Münchner Opernfestspiele eröffnen. 1999, als in Wien eine Inszenierung nach neuestem Quellenstand herauskam - man muss die Entstehung dieser Grand opéra als eine Art work in progress begreifen - setzte bereits die Renaissance des Werks ein. Nun kam "La Juive" gerade am Staatstheater Nürnberg heraus, in Koproduktion mit der Oper in Nizza. Es ist zunächst erstaunlich, mit welcher routinierten Selbstverständlichkeit die Nürnberger französische Oper bewältigen. Das Orchester unter Guido Johannes Rumstadt vereint fettfreie Härte mit zartester Lyrik.

Kein falsches Pathos, nirgendwo. Gesungen wird hochgradig anständig, von Leah Gordon als Rachel sogar fabelhaft gut. Nur Luca Lombardo, so schön der lyrische Glanz seiner Stimme auch sein mag, verfügt weder über die Kraft, den Anforderungen der Partie des Eléazars gerecht zu werden, noch über die darstellerischen Mittel, die Ambivalenz dieser Figur zum Leuchten zu bringen. Er ist mehr Henry Hübchen als Shylock. Seine große Arie, "Rachel, quand du Seigneur", von Halévy mit synagonalen Melodien unterfüttert und mit einer traumhaften Einleitung durch zwei Englischhörner versehen, rührt zwar dennoch als Manifest des Zwiespalts. Doch die Inszenierung durch Gabriele Rech beschneidet die Arie. Eléazar wäre bereit, die Wahrheit über Rachels Herkunft zu verkünden. Doch dann grölt draußen der Mob - und sein Hass flammt auf.

Der Mob fehlt hier, und mit ihm die ganze Cabaletta. Dabei ist Rech sehr bemüht, in einem Ambiente der Dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts alle Insignien der Judenverfolgung, der Verwüstung, Schändung aufzubieten. Darin ist sie extrem klar, alles ist richtig, aber auch historisch zu eng, zu abgeschlossen. Erst wenn sie den Figuren in Halévys fabelhaft komponierten Dialogen Raum gibt, wird der Zuschauer zum mündig Teilhabenden.

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