Oper:Der Wozzeck, der ist wieder da

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Was wäre, wenn Wozzeck heute hingerichtet würde? Thorsten Grümbel und Florian Simson (rechts) als Narr auf der Düsseldorfer Opernbühne.

(Foto: Karl Forster)

Nach der Hinrichtung spricht die Hauptfigur sogar das Schlusswort selbst. Stefan Herheim inszeniert Bergs Oper in Düsseldorf. Die Führungselite im Parkett verfolgte das Spektakel wie versteinert.

Von Michael Struck-Schloen

Am 27. August 1824 wurde auf dem Leipziger Marktplatz vor Schaulustigen der Soldat und Perückenmacher Johann Christian Woyzeck mit dem Schwert gerichtet, zur Strafe für den Mord an seiner Geliebten. Es war die letzte öffentliche Hinrichtung innerhalb der Leipziger Stadtmauern, die Werktätigen nahmen sich frei, Kinder mussten nicht zur Schule. Sie war ein handwerkliches Meisterstück des Scharfrichters, der den Kopf des Delinquenten mit einem schnellen Schnitt vom Rumpf trennte, ohne dass er zu Boden fiel. Danach wurde die Leiche in einen Sarg gebettet und das Schafott in aller Eile abgebaut, ‒ sonderlich wohl war der Obrigkeit nicht mehr bei diesem Relikt herrschaftlicher Justiz in einer aufgeklärten Gesellschaft.

Aufgeklärt? In der Deutschen Oper am Rhein an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Allee demonstriert der Regisseur Stefan Herheim, wie es einem Woyzeck heute in 25 Ländern der Erde ergehen könnte, in denen die Todesstrafe noch praktiziert wird. In einem klinischen Raum mit Beobachtungsfenstern (Bühne: Christof Hetzer) liegt der Verurteilte festgeschnallt auf einer Bahre. Der ungeheuerliche Akt staatlichen Tötens wird reduziert auf den technisch reibungslosen Ablauf. Ein Amtsarzt prüft den Sitz der Schläuche für die tödliche Injektion, Wachpersonal wartet auf das Kommando, ein Priester stammelt religiösen Trost. Der Amtsrichter fragt Wozzeck (wie er in Alban Bergs Oper heißt) nach seinem letzten Willen, worauf der, ein kahlköpfiger, schwer verstörter Mensch, ‒ nur ein infantiles "Hopp, hopp" herausquetscht. Wir werden diesen Worten am Ende der Oper wiederbegegnen, aus dem Mund von Wozzecks Kind, das unter den gegebenen Verhältnissen kein besseres Schicksal erwarten kann.

Doch erst einmal lernen wir, was Wozzeck im Leben erleiden musste, das hier unter Zuckungen und Schmerzen zu Ende geht. Dafür wird der Sterbende im Moment des Todes wieder lebendig und begegnet erneut seinen Peinigern, in die sich die Todeszeugen verwandeln. Matthias Klink, der als neurotisch degenerierter Hauptmann greint und girrt, misshandelt den Untergebenen sexuell, Sami Luttinen quält ihn als kasperlhaft-böser Doktor im Dienste der Wissenschaft. Die Welt des Militärs aus der literarischen Vorlage von Georg Büchner mutiert zu einer zynischen Karnevalsgesellschaft, die für ihren Spaß vor allem Opfer braucht. Und Herheim lässt es sich nicht nehmen, Embleme und Popanze des rheinischen Frohsinns zu zitieren, ‒allen voran Wozzecks Geliebte Marie, die sich als "Marie-schen" mit Perücke dem Tambourmajor (dem auch stimmlichen Potenzprotz Corby Welch) hingibt. Camilla Nylund wird später auch mit anderen Tönen betören, mit innigen und schmelzenden in ihrem Gebet, wenn es zu spät ist. Hier aber ist sie der G-Point in einer Männergesellschaft, die sich ansonsten lieber selbst begrapscht (was der Herrenchor der Düsseldorfer Oper mit selbstlosem Einsatz tut).

Sub- und Metatexte durchkreuzen das Libretto, bis es den Zuschauer am Ende schwindelt

Manchmal erdrückt der schrille Aktionismus auf der Bühne die Musik, reduziert sie zum lärmenden Soundtrack menschlicher Neurosen. Aber Herheim ist auch ein Bühnenfuchs, der weiß, wann die Klänge die Hauptsache sein müssen. Dann werden die Figuren ganz still und scheinen den mystischen Verkündigungen zu lauschen, den zarten Kanons und romantischen Beschwörungen in d-Moll, die Alban Berg in seiner Partitur als Gegenwelt und Utopie erfunden hat. Die Düsseldorfer Symphoniker bringen das Grelle und Düstere in Bergs Partitur, seinen Hang zu Schwelgerei und kontrapunktischer Tüftelei mit Feuer zur Geltung; in den folgenden Aufführungen wird sich der Opernchef Axel Kober noch etwas mehr um präzises Zusammenspiel kümmern müssen.

Dass dieses Panoptikum der Fratzen und Defekte nicht zum ermüdenden Selbstläufer wird, ist vor allem Bo Skovhus zu verdanken. Vor knapp 20 Jahren hat er den Wozzeck zum ersten und vorerst letzten Mal verkörpert, als er in Peter Konwitschnys Hamburger Inszenierung unter einem Regen von Geldscheinen jede menschliche Regung verlor. Auch im Düsseldorfer Wozzeck spielt Skovhus das Opfer eines kapitalistischen Systems, in dem Rang, Liebe und Leid in Geld aufgewogen werden. Dem Publikum schleudert Wozzek sein verzweifeltes "Wir arme Leut! Geld, Geld! Wer kein Geld hat!" entgegen, dabei wird das Licht im Zuschauersaal hell und beleuchtet die versteinerten Mienen der Führungseliten der Landeshauptstadt. Ein bisschen schal wirken solche Fingerzeige und nur Skovhus' schiere physische Präsenz, sein von allen Geistern verlassener Kinderblick und seine expressive, immer etwas klagende Tongebung verschaffen diesen Momenten ein Gran von Wahrheit.

Wenn Skovhus in seinem roten Delinquenten-Overall über die Szene hetzt, ist er das permanent schlechte Gewissen seiner Umwelt. "Er läuft ja wie ein offenes Rasiermesser durch die Welt, man schneidet sich an Ihm!", formuliert es der Hauptmann. Und Herheim nimmt das Rasiermesser gleich wörtlich: Immer wieder taucht es aus tiefen Taschen auf, wird drohend an Kehlen gehalten oder dient als schmaler Spiegel, in dem sich das Elend der Figuren abbildet. Herheim und sein Dramaturg Alexander Meier-Dörzenbach lieben solche Symbole. Das Libretto wird überlagert und durchkreuzt von Sub- und Metatexten, bis es den Zuschauer am Ende schwindelt wie Wozzeck beim Blick in den menschlichen Abgrund. Das produziert oft einen neuen, frischen Blick auf den Stoff, manchmal aber auch nur ein selbstgefälliges Jonglieren mit Analogien und Motiven.

Bei Herheim findet die Katastrophe, Wozzecks verzweifelter Mord an Marie, nicht statt. Damit verschwindet die Tat, die den Titelhelden juristisch zum Schuldigen macht. Wozzeck springt von der Todesbahre und blickt herausfordernd ins Publikum: Und ihr, wie würdet ihr entscheiden? Keine Frage, dass nach diesem euphorischen, dick aufgetragenen Schluss jeder gegen das Unrecht und für die "armen Leut" Partei nehmen würde - selbst in Düsseldorf.

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