Oper:Beste Wahl

Antonio Pappano, derzeit Musikchef der Royal Opera Covent Garden, könnte neuer Musikdirektor der Bayerischen Staatsoper werden. Ein Erkundungstrip nach London.

Von Egbert Tholl

Im Februar dieses Jahres gab es an der Bayerischen Staatsoper eine Premiere, die hieß "Semiramide" von Gioachino Rossini. In dieser Oper geht es darum, dass Semiramide, also Semiramis, die mythische Gründerin des ebenso mythischen Babylons, ihren Gatten mit Hilfe ihres Heerführers umgebracht hat. Zu Beginn der Oper, solche Absurditäten sind für Opern typisch, erwählt sie sich als dessen Nachfolger im Bett und auf dem Thron den gemeinsamen und tot geglaubten Sohn Arsace. Der aber ist in eine Prinzessin verliebt ist, auf die viele indische und babylonische Potentaten einen Gusto hätten.

Die Prinzessin aber liebt ihren Arsace zurück. Das Ende: Tod. Das dauert vier Stunden, bei der Münchner Premiere fühlte sich das Ganze aber noch deutlich länger an, wozu die statuarische Inszenierung von David Alden den entscheidenden Beitrag lieferte, aber auch das Dirigat von Michele Mariotti bei aller italienischen Eleganz nicht über die ganze weite Wegstrecke klarmachte, weshalb man sich diesem Bühnengeschehen aussetzen muss. Denn auch wenn Rossini hier nicht lustig sein will, also ein "Melodramma tragico" komponierte, im Jahr 1823, so ist die Musik halt doch durchsetzt von seinen Albernheiten, mit denen er seinen Ruhm herbeikomponierte. Gleichwohl war "Semiramide" im 19. Jahrhundert ein Hit - heute ist es trotz Rossini-Renaissance nach dem Krieg inzwischen nicht mehr ganz so. Das liegt auch an den absurden Anforderungen an die Sänger: Wenn nicht eine so vielschichtig agierende Königin wie Joyce DiDonato die Semiramis singt, kann man das Ganze gleich vergessen; sie tat dies umjubelt in München und tut dies jetzt auch in London, wo sie sogar noch heftiger gefeiert wird.

Warum muss es einen interessieren, dass die Bayerischen Staatsoper eine Koproduktion an die Royal Opera Covent Garden ausleiht? Weil der Musikchef dort Antonio Pappano ist, der Kirill Petrenko als Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper im Jahre 2021 nachfolgen könnte. Wobei "könnte" fast schon englische Dezenz ist: Von den wenigen verbliebenen, als möglich gehandelten Kandidaten ist Pappano ganz einfach gesagt: der beste. Er arbeitet sich auf für sein Haus in London und sein Orchester Santa Cecilia in Rom - beide Verträge wären rechtzeitig für München beendet -, er ist keine Hure am Taktstock, die überall dirigieren muss, und ihn lieben die Sänger.

Oper: Das zweite Highlight des Londoner Opern-Wochenendes: Alfred Hitchcocks „Marnie“ mit Sasha Cooke (Mitte vorn).

Das zweite Highlight des Londoner Opern-Wochenendes: Alfred Hitchcocks „Marnie“ mit Sasha Cooke (Mitte vorn).

(Foto: Richard Hubert Smith/English National Opera)

Das ist ja alles schön, aber wie ist der direkte Vergleich? Erst mal Quatsch, es geht hier nicht darum, das Münchner Dirigat gegen die Londoner Interpretation zu stellen, es geht um Pappano. Was der an diesem Abend mit dem Orchester macht, ist von Beginn an fabelhaft. "Semiramide" hat eine etwa zwölfminütige Ouvertüre, die Pappano auch schon als Konzertstück dirigiert hat. Man hört, weshalb. Er erzählt in diesen zwölf Minuten die gesamte Oper, nicht einfach als Ansammlung von deren schönsten Stellen, die einem dann auch mit einem luziden Wiedererkennungswert während der Aufführung begegnen. Sondern als Konzentrat der ganzen Dramaturgie und des emotionalen Gehalts.

Pappano beginnt mit gelassener Ruhe, so dass der erste Bläserchoral für die Hörner zur echten Herausforderung wird. Er dehnt die Fanfaren bis zu einem Suspense-Moment, den er mit sehr trockenen Tutti-Schlägen beendet. Als die erste der sich hier wie so oft bei Rossini wiederholenden Crescendo-Walzen einsetzt, passiert dies mit einer ungeheuren Eleganz, ganz organisch, als fänden sich sie Musiker plötzlich zu einer gemeinsamen Idee zusammen. Die erste Walze kappt Pappano noch vor dem Höhepunkt, federt diesen elastisch ab, um Minuten später, bei der Wiederholung, das Orchester in irrsinnige Raserei ausbrechen zu lassen. Dabei bleibt alles stets luftig und leicht, ist überzogen von einem silbrigen Glanz.

Am Ende der Ouvertüre gibt es die ersten Bravo-Rufe für Pappano, er hat präsentiert, was die weiteren vier Stunden bestimmen wird: eine pulsierende Dynamik, die Pappano in jedem einzelnen Takt überdenkt, einen exakt formulierten Rhythmus, der wie ein Traktor das Geschehen voranschiebt, einen leuchtend transparenter Klang. Dazu kommt ein ungeheuer liebevoller Umgang mit den Sängern. Natürlich, Rossini gibt hier schon einiges vor, lässt die Musik oft schweigen und die Sänger mit der Schönheit ihrer einfachen, erzählenden Melodien allein. Pappano lauert da hellwach auf die Gelegenheiten für das Orchester, sich zu entfalten; diese Gelegenheiten dauern oft nur jene Sekunden, die zwischen den Versen bleiben. Sie reichen, um die Farbpalette des Orchesters auszukosten. Mal explodiert es, mal grundiert es pastos einen feinen Hintergrund.

Pappano verbindet, ähnlich wie sein Kollege Petrenko, Präzision mit ungeheurer Emotionalität und lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Vor Beginn des zweiten Teils verkündet der Operndirektor Oliver Mears, dass Michele Pertusi, der Sänger des Schurken Assur, krank geworden sei. Ursprünglich hätte diese Partie Ildebrando D'Arcangelo singen sollen, der fiel jedoch noch früher aus. Nun springt Mirco Palazzi ein, der wegen Proben schon im Haus ist, die Rolle aber erst Mitte Dezember hätte übernehmen sollen. Man hört aber keinerlei Unsicherheit, zudem ist Palazzi bedeutend viriler als Pertusi.

Pappano kann allerdings nicht ganz vergessen machen, dass Aldens Inszenierung schnell die Ideen schwinden. Doch deren neckische Albernheiten funktionieren zu Beginn, wenn Pappano mit Übermut aus der Ouvertüre kommt, bemerkenswert gut. Überhaupt herrscht hier viel Kurzweil, trotz Aldens Herumsteherei, weil die Spannung aus der Musik kommt, auch wenn die allerletzte tragische Tiefe ausbleibt. Wenn die Produktion wieder nach München zurückkehrt, könnte Pappano gleich mitkommen - an der Bayerischen Staatsoper hat er bislang noch nie dirigiert.

Neben der Royal Opera Covent Garden gibt es in London noch die English National Opera (ENO), an der englisch gesungen wird, volksnaher, wenn man so will. Die Situation erinnert durchaus an die in München, wo das Staatstheater am Gärtnerplatz Musiktheater mit deutlich niedriger Hemmschwelle präsentiert als die Bayerische Staatsoper. Doch die ENO ist kein Unterhaltungstempel, sie befindet sich nur in unmittelbarer Nähe zu vielen Musical-Häusern. Einen Tag vor der "Semiramide"-Premiere hatte hier ein erstaunliches Werk seine Uraufführung - erstaunlich schon deshalb, weil der Komponist Nico Muhly, Jahrgang 1981, richtig große Oper macht. "Marnie" dauert zweieinhalb Stunden, braucht ein Dutzend Solisten und einen enormen Orchesterapparat.

Es ist Muhlys dritte Oper. Daneben hat er viel geistliche Musik komponiert, Liedzyklen, schrieb für Künstler wie den Tenor Mark Padmore oder das Hilliard Ensemble und machte Filmmusik. Spätestens bei dem letzten Stichwort ist klar, dass er sich außerhalb kontinentaleuropäischer Kreise zeitgenössischer Musik bewegt; in Donaueschingen oder bei der Münchner Musiktheaterbiennale dürfte man ihn kaum finden. Ein Fehler.

Muhly ist geschult an Minimal Music und liebt Tonalität. Das klingt noch nicht sonderlich aufregend, doch er verfügt über sehr gutes kompositorisches Handwerk. Er schreibt viele schönklingende Linien, die er dann gegeneinander versetzt oder ineinander schiebt. Dadurch entsteht ein aufregendes Flirren, welches das an sich vollkommen überschaubare Material zu einem psychotischen Klangraum vergrößert. In diesem gibt es Gesangspartien, die vage an ein richtig gutes Musical erinnern, aber auch schroff sein können oder Koloraturen aufweisen. Den Rhythmus treiben zahlreiche Perkussionisten voran. Dann und wann brummt herrlich schön ein Cello in wehmütiger Spätromantik.

Es ist ziemlich gute Musik und ein richtig gutes Stück, hochprofessionell. "Marnie" ist der Alfred Hitchcock-Film von 1964, in dem Tippi Hedren (Marnie) kleptomanisch ein ihr selbst kaum bewusstes Kindheitstrauma aufarbeitet und von Sean Connery beim Stehlen erwischt wird. Connerys Figur Mark Rutland, Marnies Chef, verliebt sich vom Fleck weg in sie, will ihr Geheimnis ergründen, zwingt sie zur Heirat, vergewaltigt sie auf der Hochzeitsreise, lässt sie mit Zwang ihr Trauma erkunden. Hitchcock geht hier hart und hemdsärmelig psychologisch vor; Muhlys Librettist Nicholas Wright ist subtiler. Auch wenn er ein paar Filmdialoge wörtlich übernimmt, stützt er sich auch auf den Roman von Winston Graham, auf dem der Film basiert. Neben einigen Verschiebungen im Personal - im Film ist die Schwester von Rutlands verstorbener Frau hinter ihm und Marnies Wahrheit her, im Roman hat Rutland einen intriganten Bruder für Letzteres - erzählt die Oper vor allem die Geschichte aus Marnies Innensicht. Sie weiß nicht, wer sie ist - Muhly und Wright schreiben ihr vier Spiegelfiguren, vier weitere Marnies zur Seite.

Die Inszenierung von Michael Mayer, vor allem die Ausstattung von Julian Crouch und 59 Productions Ltd. ist beeindruckendes Schau-Theater, ohne viel Rätsel, aber von hoher Präzision. Es gibt einige fiese Scherze über Sexismus im Büro und anderswo - hierin ist die Aufführung sehr zeitgemäß, was das Londoner Publikum, vertraut mit Kevin Spacey und anderen Skandalen, mit grimmigem Lachen goutiert. Es gibt ein Ballett sinistrer Herren, den tollen Counter-Tenor James Laing als Rutlands Bruder, die fabelhafte Sasha Cooke als vibrierende Marnie und ENO-Musikchef Martyn Brabbins dirigiert mit so großer Lust, als läge die Partitur der "Tosca" vor ihm.

Ein aufregender Abend, der im Herbst 2018 von der New Yorker Met übernommen wird. Überhaupt sind die beiden Londoner Häuser (gezwungenermaßen) sehr geschickt in Geschäftsdingen. Beide produzieren eifrig CDs ihrer Produktionen, Covent Garden ist darüber hinaus sehr im Kino oder auf DVD präsent. Man muss nicht alles als Vorbild nehmen, aber lernen kann man an diesem Wochenende von London viel.

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