Oper:Beim Singen kann die Vernunft nur stören

José María Sánchez-Verdús mystische Oper "Argo" in Schwetzingen: Taub ist die Kultur, wer aber hört, wirft sich ins Wasser.

Von Reinhard Brembeck

Sportlich ist es, aus nur drei zitierten Sätzen eine abendfüllende Oper zu machen. Und diese wird dann auch noch ein Publikumserfolg. Der Komponist dieser erstaunlichen Leistung heißt José María Sánchez-Verdú. Er ist 50 Jahre alt und lebt abwechselnd in Berlin und Madrid. Seine "Argo", deren Uraufführung er zur Eröffnung der Festspiele im Schwetzinger Rokokotheater auch dirigierte, ist bereits seine zehnte Oper, aber ganz sicher ist er sich bei der Zählung nicht. Jetzt sitzt der ruhige, fast schon schüchterne Komponist ein paar Stunden vor der Uraufführung dort, wo er sich am liebsten aufhält und wo er sich sehr oft inspirieren lässt: in einem Garten, hier dem des Schwetzinger Schlossparks.

Die Gartenleidenschaft gründet vielleicht darin, dass Sánchez-Verdú in Granada und im Bannkreis der Alhambra aufgewachsen ist. Granada ist eine Stadt der Gärten. Sie verleihen auch den maurischen Alhambra-Palästen erst ihren Zauber. Schon Manuel de Falla komponierte hier seine atmosphärisch flirrenden "Nächte in spanischen Gärten". Sánchez-Verdú steht in dieser Tradition, auch wenn seine nachtdunkle Musik sehr viel moderner ist und durch die Live-Elektronik noch geheimnisvoll fremder wirkt. "Ich bin immer dabei," sagt er, "Gärten zu schaffen." So tragen etliche seiner Stücke ein "Jardín" (Garten) im Titel. Und schon schwärmt er, der 1996 nach Deutschland kam, von Italien, wo er ein Jahr lang gelernt hat, von den Gärten in Bomarzo und Viterbo, schwärmt von dem einst vielgelesenen Garten- und Liebesroman "Hypnerotomachia Poliphilo" ("Traum des Poliphilo") von 1499.

Durch die Vermittlung Federico García Lorcas wurde ein Gedicht des ansonsten unbekannten Barockdichters Soto de Rojas berühmt, das einen für die hermetische Mentalität Granadas bezeichnenden, poetisch geheimnisvollen Titel trägt: "Paraíso cerrado para muchos, jardines abiertos para pocos" ("Paradies, für viele verschlossen, Gärten, für wenige geöffnet"). Der Name beschreibt auch die Musik von Sánchez-Verdú. All seine Stücke sind Paradiese und Gärten, in denen er wie die großen mystischen Dichter San Juan de la Cruz, Ibn Arabî oder Attar stets auf die Suche geht - nach sich selbst, nach dem Sinn des Lebens, nach den Geheimnissen der Musik.

Eine Musik, den maurischen Gärten abgelauscht und dem Ornament hingegeben

Sánchez-Verdú hat als Schüler in einer Rondalla-Truppe die nur in Spanien und Lateinamerika populäre Zupflaute Bandurria gespielt, hat Geige und, bei einer Nachbarin, Klavier gelernt. Aber erst als er den Organisten an der Kathedrale von Granada kennenlernte, selbst ein Komponist, begriff er, was Komponieren heißt. Die Tonkunst hat er dann in Madrid studiert, nebenher auch Jura. "Leider nicht Architektur. Das war ein großer Fehler. Architektur ist etwas, das in der Musik immer ganz nahe liegt. Ich kann kein Musiktheater machen ohne konkrete Ideen zum Raum." Für das diesjährige Sommerfestival in Granada soll er ein Stück schreiben, das sich auf die Alhambra bezieht. Er studierte die geometrischen Muster auf den Kacheln, den Azulejos, und in den Holzgittern, den Celosías. Er ging sogar mit einem Mathematiker in die Alhambra: "Es gibt 19 verschiedene Formeln auf den Azulejos. Diese Strukturen sind extrem musikalisch. Die Araber arbeiten mit dem Licht, mit vielen Schleiern, mit Rhythmus, Zahlen und letztlich mit der Zeit. Denn man muss die Strukturen lesen und im Raum wahrnehmen." Derzeit überlegt er, wie er solche Erkenntnisse als Inspirationsquelle für seine Klangwelten nutzen kann: "Meine Musik steht immer zwischen Schatten und Licht, Luft und Ton. Sie bewegt sich immer zwischen den Grenzen, sie ist immer in der Mitte zwischen etwas und etwas anderem."

Schwetzinger SWR Festspiele

Jason, an den Mast gebunden, Butes auf dem Weg in die Liebe.

(Foto: Elmar Witt/SWR/SSF)

In diese Welt fügt sich auch die neue Oper "Argo" ein, benannt nach dem Schiff, auf dem die Argonauten ins damals unbekannte Schwarze Meer fuhren, um das legendäre Goldene Fließ zu rauben. Aber nicht um Reise, Garten oder Raum geht es, sondern um Butes, einen der fünfzig Helden auf dem Schiff. Dessen Schicksal wird in den eingangs erwähnten drei Sätzen erzählt, die sich in der "Argo-Fahrt" des Apollonios von Rhodos finden. Als die Argo an den männermordenden Sirenen vorbeimuss, singt Orpheus laut gegen die Frauen an, damit die Seefahrer nicht vor Kunstbegeisterung über Bord und in den Tod springen. Nur einer erliegt dem dunklen Locken: Butes springt, schreibt Apollonios, "von der helltönenden Stimme der Sirenen erhitzt".

Den Rest der Geschichte erzählt nur die Oper. Während Apollonios den Butes als unvernünftigen Menschen abtut, der seinen Leidenschaften nicht beherrschen kann, ist er in dem von Gerhard Falkner geschaffenen, ebenso dichten wie suggestiven Versen des Librettos ein Neugieriger, der den Schritt aus der Gesellschaft heraus ins Unbekannte und hin zu den Quellen des Lebens wagt. Butes folgt den Lockungen der Liebesgöttin Aphrodite, die von vornherein weiß, dass er ihr idealer Liebhaber sein wird. Nach seinem Tod wird er auf dem Olymp dazu erhoben.

Anders als Butes verweigert sich Orpheus den dunklen Verlockungen der Sirenen, deren sirrende Urmusik von sieben nie sichtbaren Sängerinnen angestimmt und elektronisch verfremdet wird. Orpheus spielt seine Lyra so laut, dass er die Sirenen nicht hören kann. Er nutzt, sagt Sánchez-Verdú, "die Kunst, die Kultur als Schutz". Als Waffe? "Ja. Er will das Andere nicht hören. Butes aber ist genau das Gegenteil, ein Anti-Orpheus, der auf der Suche ist nach den Urklängen dieser monströsen Ungeheuer, der Sirenen." Butes: das Alter Ego des Sánchez-Verdú.

Es gibt hier noch ein paar andere Liebes- und Lebenssinnverweigerer. Einmal Jason, der bald schon seine Liebe zu Medea verraten wird, sowie Odysseus, der zwar die Sirenen hören will, sich aber an den Mast binden ließ, um ihnen nicht zu erliegen. Die "Argo" ist damit eine mystische Parabel. Sie wird aber offenbar vom Publikum verstanden. In Schwetzingen wird lange gejubelt, werden die großartigen Sänger Maren Schwier, Jonathan de la Paz Zaens, Alin Deleanu, Brett Carter, Martin Busen und die fein minimalistisch arbeitende Regisseurin Mirella Weingarten ausgiebig gefeiert.

Der SWR sendet die Oper "Argo" am 13. Mai. Danach ist die Produktion in Mainz zu sehen.

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