Österreichische Literatur:Ein bunter Papagei aus Holz

Wie schreibt man in Zeiten der Stimmungsumschwünge einen Gesellschaftsroman? Norbert Gstrein macht es in "Die kommenden Jahre" vor - und verbindet die Zeitdiagnostik mit einem Lob der Imagination.

Von Meike Fessmann

Der neue Roman des in Hamburg lebenden Österreichers Norbert Gstrein spielt im Sommer 2016. Und er beginnt in New York, ein knappes halbes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen. Der Ich-Erzähler ist zu einer wissenschaftlichen Tagung zum Klimawandel angereist, mehr seines kanadischen Freundes Tim Markowich wegen als in der Hoffnung, mit seinem Vortrag über Tropengletscher etwas bewegen zu können. Richard und Tim waren Anfang der 1990er Jahre bei einem Forschungsprojekt auf dem Juneau-Eisfeld in Alaska. Kälte und Isolation haben sie zusammengebracht. Nun hat der Freund einen Ruf nach St. John's bekommen und bietet ihm an, ihn nach Neufundland zu begleiten. "St. John's" ist so etwas wie die magische Losung des Romans, ein Fluchtort und Ausweg, der bis zuletzt offenbleibt.

"Die kommenden Jahre" ist ein politisch akzentuierter Gesellschaftsroman wie viele Romane des 1961 in Tirol geborenen Autors, etwa "Das Handwerk des Tötens" und zuletzt "In der freien Welt". Er ist lockerer komponiert als seine Vorgänger und lässt dem Leser genügend Raum, um auf den Spuren des Stoffs sein eigentliches Thema zu finden. Während Richard in den USA eine Art Auszeit von seiner Ehe und von Deutschland nimmt, erfahren wir die Vorgeschichte seiner Alltagsflucht. Er und seine Frau Natascha, eine erfolgreiche Schriftstellerin, haben einer syrischen Flüchtlingsfamilie zu eher symbolischer Miete ihr "Sommerhaus" überlassen.

Doch was als Hilfsprojekt gedacht war, gefährdet die Schutzbedürftigen und läuft immer mehr aus dem Ruder. Das kleine Einfamilienhaus, das Natascha und ihre verstorbene Zwillingsschwester nach der Wende von den Großeltern geerbt haben, liegt an einem See eine gute Stunde von Hamburg entfernt. Das Dorf beobachtet die neuen Mitbewohner mit Argwohn, Jugendliche fahren mit Fackeln über den See und demonstrieren bedrohliche Präsenz. War es eine gute Idee, die Familie dorthin zu bringen? Und ist es womöglich eine zusätzliche Gefährdung, die Geschichte auch noch öffentlich zu machen?

Österreichische Literatur: Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2018. 286 Seiten, 22 Euro.

Norbert Gstrein: Die kommenden Jahre. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2018. 286 Seiten, 22 Euro.

Ein Fernsehteam hat vor Ort gefilmt. Man sieht die syrische Familie mit ihren beiden Söhnen, man sieht die Schriftstellerin, den Gatten am Grill, die Tochter schwebt mit ihrem gepunkteten Kleid wie eine Elfe durchs Bild. Dabei überlässt Natascha Familie Farhi keineswegs ihrem Schicksal. Sie schreibt eine Kolumne und plant ein Buch. Fast täglich fährt sie hinaus, füllt den Kühlschrank, kümmert sich um sie, macht sich Sorgen, etwa wenn Herr Farhi in einem schwarzen Geländewagen von einem Mann durch die Gegend gefahren wird, der aussieht, als käme er aus einem Mafiafilm oder gar aus einem Leichenhaus (so blass ist er). Ist er ein Mitarbeiter des russischen Geheimdiensts? Sollte an den Gerüchten etwas dran sein, dass Bassam Farhi dem System nahestand? Oder kommt die Familie womöglich gar nicht aus Syrien, sondern aus Palästina?

Weil er in so flüssigem Parlando erzählt, fällt kaum auf, wie raffiniert Norbert Gstrein die Perspektiven verschränkt. In den Tagen, in denen sich der Erzähler in den USA aufhält, tauscht er sich nicht nur per Skype mit Natascha aus, sondern achtet wie ein Seismograf auf die Reaktionen der anderen Tagungsteilnehmer, von denen eine kleine Gruppe zu einem anschließenden Aufenthalt in der feudalen Hudson-Villa eines Industriellen eingeladen ist. Aus ihrem Verhalten versucht er herauszulesen, ob sie den Film auf YouTube gesehen haben, was sie davon halten und wie der deutsche Eifer den Flüchtlingen gegenüber in der Welt ankommt. Wie der Autor stammt auch Richard aus Tirol. In den USA wird er für einen Deutschen gehalten.

Was wird in Zeiten schnell umschlagender Stimmungen aus dem Gesellschaftsroman?

Neben Tim, dessen Familie aus Jugoslawien stammt, ist auch Richards frühere Studentin Idea Selig aus Mexico City auf der Tagung. Ihre jüdischen Großeltern sind vor den Nazis nach Argentinien geflohen, ihre Eltern vor der Militärjunta nach Mexiko. Mit beiden kann er jene Mythen vertrauter Gemeinsamkeit pflegen, wie sie unter Bedingungen der Abgeschiedenheit besonders gut gedeihen. Die temperamentvolle Idea spricht aus, was er selbst nicht zu sagen wagt: Seine Frau sei ein "blondes Monster der Moral".

Norbert Gstrein macht eine Art literarisches Doppelspalt-Experiment, wenn er seinen Erzähler mit fremdem Blick auf Ereignisse schauen lässt, an denen er eigentlich beteiligt ist. Auch wenn der Roman gelegentlich Ressentiments pflegt, etwa das österreichische Vorurteil gegen die ordnungswütigen "Teutonen" oder das Klischee vom lebenszugewandten Katholizismus als Gegensatz zum verbiesterten Protestantismus und seiner Schwundstufe, dem Pragmatismus, liefert er eine listige Antwort auf die Frage, wie man in Zeiten schnell umschlagender Stimmungen überhaupt noch Gesellschaftsromane schreiben kann. Und was könnte ein besseres Beispiel für einen solchen Stimmungsumschwung sein, als der Wechsel von der Willkommenskultur im Herbst 2015 zu Argwohn, Panik und infamer Unterstellung nach der Silvesternacht?

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Roman "Die kommenden Jahre" stellt der Verlag auf seiner Homepage zur Verfügung.

Aber geht es in diesem Roman überhaupt darum? Ist die Beargwöhnung deutscher Hilfsbereitschaft als eine Form des Narzissmus und als ein Freikaufen von der Geschichte sein eigentliches Thema? Oder bearbeitet Norbert Gstrein eine tiefere Schicht, die mit dem mehrmals beschworenen Bild des Gletschers zu tun hat, der die flüchtigste Materie, den Schnee, über Jahrhunderte und Jahrtausende konserviert?

Zunächst nur als Unterstrom spürbar, begreift man mit der Zeit, dass der Roman eine ganze Bildergeschichte des Imaginären miterzählt. Neben den Klassikern des amerikanischen Abenteuerromans von Karl May über Mark Twain und J. F. Cooper bis hin zu Herman Melville, die Gstrein immer wieder aufruft, neben dem Doppelgänger-Motiv und schauerromantischen Elementen, treibt der Roman gleich mehrere Luftgestalten des Imaginären hervor. Richards und Nataschas Tochter Fanny ist - ganz konkret - ein Spielball der Launen ihrer Eltern. Sie ist aber auch der Inbegriff bedrohter Kindlichkeit, wenn sie auf der Schaukel des Sommerhauses hin und her schwingt, wo der Erzähler sie besonders gern platziert. Man denkt an die Romane Daphne du Mauriers und natürlich an die großen Filme, die Hitchcock und Nicolas Roeg daraus gemacht haben.

Norbert Gstrein spielt mit dem Gedanken, dass der neue Realismus und Pragmatismus, der überall gefordert wird - und für den er mit misogynem Unterton wohl gern einen bestimmten Frauentypus verantwortlich machen würde -, auch Imaginationen bedroht, die bedeutsam sind: als seelische Fluchtorte des inneren Rückzugs. Das zentrale Ding-Symbol des Romans ist ein bunter Holzpapagei. Natascha will ihn auf dem Flohmarkt verkaufen und der syrische Gast ersteigert ihn, um ihn Richard zurück zu schenken. Von Vater zu Vater hat er dessen Trauer bemerkt, während Natascha in ihrem teutonischen Pragmatismus auf seiner Seele herumtrampelt und ihn einen "Narr aus einem anderen Jahrhundert" nennt.

"Die kommenden Jahre" ist ein Roman über Klimawandel und Migrationsbewegungen, aber mehr noch eine Verteidigung imaginärer Räume. Die Flucht aus dem Alltag, die Heroisierung des Fremdseins, der Rückzug an Orte, die nicht jedem zugänglich sind, die Höhenflüge der Phantasie: all dem huldigt er auf dem Grund seiner Bildwelt. Norbert Gstreins leichthändig erzählter Roman ist ein höchst virtuoses Schelmenstück: eine Feier des Eskapismus im Gewand des Gesellschaftsromans.

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