"Nymphomaniac" auf der Berlinale:Unten der Körper, oben das Delirium

Berlinale 2014 ? Charlotte Gainsbourg in "Nymphomaniac"

Wer sich hier exakt wie weit entblößt hat, wird nie genau feststellbar sein: Aber in dieser Szene kommt es nicht zum Sex.

(Foto: Zentropa)

Lars von Triers "Nymphomaniac", erster Teil: Was wurde bislang verborgen, was ist nun zu sehen? Im sogenannten Director's Cut der Berlinale gibt es tatsächlich noch mehr Sex zu sehen. Doch interessant sind andere Dinge, die jetzt dazukommen.

Von Tobias Kniebe, Berlin

Schon wahr, diesen besonderen Kameraschwenk gibt es immer wieder. Er führt von einer halbnahen Einstellung männlicher und weiblicher Genitalien, die sich gerade in heftiger Paarungsaktion befinden, hinauf zu den erregten, verzückten oder anderweitig verzerrten Gesichtern. Es sind die Gesichter der echten Schauspieler, die in "Nymphomaniac" auch die Hauptrollen spielen. Der Schwenk stellt immer wieder eine Verbindung zu dem her, was die Körper weiter unten gerade tun, und diese Verbindung ist dem Regisseur Lars von Trier erkennbar wichtig.

Es ist also wahr, dass der sogenannte Director's Cut von "Nymphomaniac Part I", der nun erstmals auf der Berlinale gezeigt wurde, pornografischer ist als die zweiteilige Kinofassung, die in einigen Ländern schon läuft und die in dieser Zeitung nach der Weltpremiere in Dänemark rezensiert wurde. Zu dem, was man damals sehen konnte, sind jetzt allein im ersten Teil noch mal fast dreißig Minuten dazugekommen. Die Vorstellung, die vorab unter den Kritikern kursierte (und in den Medien kolportiert wurde), dass es dreißig reine Porno-Minuten sein könnten, ist allerdings falsch.

Tatsächlich fügt die Geste, alle Gesichter so direkt mit den nun vollständig gezeigten Geschlechtsteilen zu verknüpfen, dem Film in seiner bisherigen Fassung wenig hinzu. Historisch ist es zwar richtig, dass da eine technische Trennung besteht - "echte" Schauspieler leihen ihren Körper der Kamera traditionell bis zur Gürtellinie, "Body Doubles" übernehmen den schmutzigen Rest. Heute bedeutet allerdings auch ein bruchloser Schwenk dazwischen kein Mehr an Wahrheit oder Wagnis mehr. Wir wissen: Digital lässt sich inzwischen alles zusammenfügen. Wer sich hier exakt wie weit entblößt hat, wird nie genau feststellbar sein.

Uma Thurman, furiengleich

Interessant sind andere Dinge, die jetzt dazukommen - ganz kurze Einschübe in die Szenen oft nur, sodass man sich fragt, ob man den Unterschied vielleicht halluziniert. Im ersten Kapitel, wo Joe, die Heldin der Geschichte, die sich selbst als nymphoman bezeichnet, ihre Unschuld verliert und Wetten mit ihrer Freundin abschließt, wer in kürzester Zeit am meisten Sex haben kann, gibt es wenig Änderungen.

Im zweiten, in dem sie sich unglücklich und unerfüllt verliebt, schon mehr - die Liebesintrige ihre Nebenbuhlerin wird klarer. Im dritten schien eine Szene mit Uma Thurman, die als betrogene Ehefrau furiengleich ins Leben der Protagonistin einbricht, noch einen Tick länger zu sein, aber das kann täuschen. Die wichtigste Addition kommt im vierten Kapitel, in dem Joe hauptsächlich ihrem Vater beim Sterben zusehen muss - und das hat überhaupt nichts mit Sex zu tun.

Hier versteht man zum ersten Mal, mit welch grausamem Todes-Delirium man es wirklich zu tun hat - und das scheint den Warnhinweis zu bestätigen, den Lars von Trier vor die normale Kinofassung gehängt hat: dass die dort vorgenommenen Kürzungen zwar mit seinem Einverständnis, aber nicht unter seiner Aufsicht vorgenommen wurden. "Nymphomaniac" ist demnach ein krasser Fall, in dem das Kino mit den Zeitbegrenzungen seiner Form und seiner Auswertungsmöglichkeiten ringt, bis zu dem Punkt, wo ein Regisseur scheinbar aufgibt: Nehmt ihr noch was raus, ich kann nicht mehr. In einer Zeit, in der das Fernsehen sich täglich neue Freiheiten des stundenlangen epischen Erzählens erobert, wirkt das tatsächlich ein bisschen absurd.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: