Nutzlose Ehrungen:Vielen Dank für die Blumen

Das heutige Kino braucht Helden mit Vergangenheit. Anstatt die großen Kinoregisseure zurück ans Filmset zu holen, verleihen wir ihnen nutzlose Preise. Ein Appell.

Tobias Kniebe

Bis Ende der neunziger Jahre konnte man auf dem Brighton Way, einer stillen Seitenstraße in Beverly Hills, einem freundlichen älteren Herrn begegnen. Er war stets elegant gekleidet: Tweedsakko, Cashmere-Schal, Schiebermütze. Am späten Vormittag tauchte er auf, in der Nähe des glitzernden Rodeo Drive, kramte nach Schlüsseln, stieg mühsam ein paar Treppenstufen hinauf und verschwand in einem Büro, das in einem Rückgebäude hinter einem Geschenkladen lag.

Nutzlose Ehrungen: Nur Blumen und Ehrungen: Billy Wilder hätte lieber Filme gedreht.

Nur Blumen und Ehrungen: Billy Wilder hätte lieber Filme gedreht.

(Foto: Foto: AP)

So ging er zur Arbeit, die nichts anderes als eine selbstauferlegte Pflicht war. Immer gab es einen Stoff, der ihn gerade faszinierte, eine Idee, an der zu feilen, ein Drehbuch, das dringend zu vollenden war. Nach allem, was er über sein Handwerk wusste - er wusste darüber mehr als jeder andere lebende Mensch - sollten großartige Filme daraus werden. Sein Name war Billy Wilder.

Die Welt, die mal Höchstgagen für seine Dienste bezahlt hatte, sie wollte keine Drehbücher und keine Filme mehr von ihm. Nicht geschenkt. Stattdessen drängte sie ihm ihrerseits etwas auf: Ehrungen, Preise, Ehrenpreise. Sechs Jahre, nachdem sein letzter Film in die Kinos gekommen war, schrieb er in seinem Büro und verkaufte keine einzige Idee. Dafür nahm er Auszeichnungen entgegen. Im siebten Jahr bekam er den Oscar für sein Lebenswerk.

Durchbruch des Quotenkalküls

Er stellte ihn zu den sechs, die er schon hatte, und machte weiter. Noch einmal zehn Jahre lang. Bei den nächsten Ehrungen sagte er, er könne keine Preise mehr annehmen, die Putzfrau komme mit dem Abstauben nicht nach. Und eines Tages, irgendwann nach dem Ehrenbären der Berlinale und knapp vor der Erkenntnis, dass er nie wieder einen Film machen würde, da sagte er: "Auszeichnungen und Preise sind wie Hämorrhoiden. Früher oder später bekommt sie jedes Arschloch."

Die Schizophrenie, wie wir mit unseren Kinohelden umgehen, sobald sie ein bestimmtes Alter überschritten haben, hat sich seitdem verschärft. Eigentlich brauchen wir sie dringender als je zuvor: Jedes Filmfestival wäre heute verloren ohne eine Retrospektive, die neue Entdeckungen wenigstens in die Nähe von wirklichen Meisterwerken rückt; jede Preisverleihung wäre entlarvt ohne einen Ehrenpreisträger, der aus einer anderen, besseren Zeit kommt und für einen Moment die Gesetze von Quotenkalkül und Jury-Opportunismus durchbricht.

Zweitens aber war es vor allem bei uns hier in Deutschland noch nie so egal, wen wir für ein paar Minuten ins Rampenlicht zerren: Jedem Erstlingsregisseur, jedem Gastarbeiter in Hollywood mit Zwergenrollen, jeder schauspielernden Verlegersgattin wird ohne Wimpernzucken die totale Meisterschaft bescheinigt - was zählt da noch wahre Größe?

Jean-Luc Godard ahnte zu Recht nichts Gutes, als er beim Europäischen Filmpreis 2007 den "Preis für die Karriere" bekommen sollte. Er fand, eine Karriere im engeren Sinn habe er nie gehabt. Also sagte er ab, in Godard-Manier, freundlich und unverschämt zugleich. In einem tollen Gespräch mit der Zeit zündete er sich erst eine Zigarre an, und dann: "Wissen Sie, es scheint mir seltsam, in Berlin einen Filmpreis für mein Lebenswerk zu bekommen. Für Filme, die sich gerade die Leute, die die Preise in Berlin vergeben, nicht anschauen."

Aufgehört zu existieren

Wim Wenders, dem Präsidenten der Europäischen Filmakademie, wuchs vor Ärger über Nacht ein grauer Zopf! Am nächsten Tag zog er seinen hässlichsten Smoking und seine grellste Krawatte an, dann setzte er seine fieseste Brille auf, schaute wie eine selbstmordgefährdete Kartoffel und jammerte: "Hélas, tu n'es pas là!", zunächst auf Französisch, damit es Godard auch verstehen konnte. "Du bist nicht da!" Aber, so fuhr er fort: Deine Filme sind in unseren Köpfen. Und: "Niemand hat diese spezielle filmische Intelligenz, die du hast."

Ein schöner Satz, der die Möglichkeit offenlässt, dass andere Regisseure andere spezielle Intelligenzen haben, von denen wiederum Godard nur träumen kann: Wenders zum Beispiel. Danach droschen in Berlin die abgehalfterten Leningrad Cowboys auf ihre Instrumente ein - und der eh große Godard hatte wg. Abwesenheit nochmal an Statur gewonnen.

Auf der nächsten Seite erfahren Sie, warum Ehrenpreise immer Fernsehpreise sind.

Vielen Dank für die Blumen

Von den Gästen, die an diesem Abend in der "Arena" in Treptow versammelt waren, angefangen bei Jeanne Moreau und Liv Ullmann (und leider nicht endend bei Klaus Wowereit), nimmt es kaum einer auf sich, Godards neueste philosophische Spitzfindigkeiten zu entschlüsseln. Wer kann es noch aufnehmen mit diesem Reichtum an Zitaten, Erkenntnissen und Referenzen in seinem Spätwerk?

Sein jüngster Film "Notre Musique", der vier Jahre zurückliegt, ist in Deutschland weder im Kino gelaufen noch auf DVD erschienen. In den USA eröffnete er auf einer einzigen Leinwand. Dieses Schicksal lässt nur einen Schluss zu: Gerade jenen Fans, die pausenlos die lebensverändernde Kraft des frühen Godard beschwören, ist das Schicksal des späten egal: Als Fixpunkt der eigenen Selbstvergewisserung, den man mit den immer gleichen Bildern und Szenen herbeizitiert, braucht man ihn - als Filmemacher aber hat er aufgehört zu existieren.

Das Publikum ist schließlich jung

Das Argument, warum das so ist, ist seit Anbeginn des Kinos dasselbe. Ein Regisseur, heißt es, müsse auf der Höhe der Zeit sein, die Lebenswelt seines Publikums verstehen, dessen Sorgen, Wünsche und Obsessionen teilen. Nur dann könne jener besondere Funke überspringen, der für einen Kassenerfolg wichtig sei, aber nicht nur das: Auch das Ziel, ein Lebensgefühl, eine Weltsicht zu spüren und gleichzeitig zu definieren, wie es Godard zum Beispiel mit "Außer Atem" gelang, das alles hat ebenfalls mit diesem Funken zu tun.

Ein Meisterwerk, das die Welt bewegt und gleichzeitig das Kino selbst voranbringt - man traut es nur dem jungen Filmemacher zu. Auch das Publikum, zu dem er sprechen soll, ist schließlich jung. Vielleicht nicht so jung wie die Teenager, die auf "Spiderman IV" warten, aber doch wesentlich jünger als in den anderen Künsten. Fernsehzuschauer, Konzertbesucher, Theaterkarten-Abonnenten und Romanleser gibt es bis ins hohe Alter - nur das Kino gibt man als Kunstform irgendwann auf.

Ehrenpreise sind deshalb immer auch Fernsehpreise. Eine Auszeichnung für Billy Wilder oder Robert De Niro gilt formal dem Filmschaffenden, richtet sich in Wirklichkeit aber an den Mann der ungezählten TV-Wiederholungen. Noch lieber ehrt man die Alten, wenn sie ihr fragwürdiges Gewerbe rechtzeitig aufgeben, wie Karlheinz Böhm, oder ihre liederliche Existenz als Unicef-Botschafter aufbessern, wie Sir Peter Ustinov.

Irgendwann wird die Tatsache gefeiert, dass sie noch am Leben sind, egal was sie vorher getan haben - wie bei Johannes Heesters. Deshalb wirken diese Auftritte oft so verquält: Da ist Götz George, der die Lobhudelei beim Deutschen Fernsehpreis wegwischen und lieber ans Buffet will, weil er zu viel Viertelprominenz im Publikum sieht. Oder Mario Adorf, der bei jeder Ehrung bessere Drehbücher einklagt. Oder Armin Mueller-Stahl, der seit Jahren verkündet, eigentlich wolle er nur noch malen und Geige spielen und doch immer wieder in Filmen auftaucht.

Das gewisse Etwas

Am härtesten trifft es die Regisseure. Die Urteile, mit denen man sie aus dem aktiven Dienst verabschiedet und auf die Lebenswerk-Warteliste setzt, sie klingen immer gleich: "He's over the hill", heißt es in Hollywood, oder: "He's lost his touch": Zenit überschritten, Instinkt verloren. Ein, zwei Flops in einer kritischen Lebensphase: aus und vorbei. So groß die Verehrung auch ist, die man einem alten Meister entgegenbringt, so unvorstellbar, noch einmal einen niedrigen zweistelligen Millionenbetrag zu riskieren, um von dieser Meisterschaft zu profitieren.

Das war es, was Billy Wilder in seinen letzten 20 Jahren so verbitterte. "Du verlierst deinen Instinkt doch nicht!", stöhnte er. "Du gehst in eine Kunstgalerie und kannst sofort sagen, welche Gemälde gut oder schlecht sind. Du gehst in ein Café oder Restaurant und zeigst sofort auf die Frauen, die das gewisse Etwas haben. So etwas verlernt man nicht! Ich weiß, dass ich noch immer einen guten Film machen kann." Bedenkt man, wie wach Wilder in seinen letzten Jahren war, wie tödlich seine Pointen kamen, so kann man wohl daran glauben.

Auf Seite 3 lesen Sie, wie sich das Schicksal von Dirigenten und Filmemachern unterscheidet.

Vielen Dank für die Blumen

"Filmemachen ist ein Sport für junge Männer" - dieser Satz stammt von einem der Größten überhaupt, von Ingmar Bergman. Er sprach ihn kurz nach seinem 60. Geburtstag. Dann drehte er "Fanny und Alexander", absolut auf der Höhe seines Könnens, und kündigte seinen Abschied an. Es wurde kein Abschied vom Schreiben und Regieführen, da blieb er im Fernsehen noch lange aktiv, aber es war doch ein Abschied vom Kino. Niemand kam auf die Idee, in Bergman einen Meister zu sehen, der das Schwinden seiner Kräfte nicht wahrhaben wollte.

Am Ende haben beide recht: Ingmar Bergman mit seiner Erkenntnis, dass das Kino eine spezielle, oft grausame Liaison mit der Jugend unterhält. Und Billy Wilder mit seinem Gefühl, dass die Meisterschaft des Alters, die in anderen Künsten unbestritten ist, auch die Filmkunst bereichern könnte. Es ist, wie so oft, auch eine Entscheidung des Publikums. Wer zwischen zwanzig und dreißig war, als "Außer Atem" 1960 in die Kinos kam, wer den orginären Godard-Flash noch erlebt hat, der muss heute zwischen Ende sechzig und Ende siebzig sein.

Die größten Regisseure ohne Job

Diese Menschen sind reicher, fitter, lebensfroher als jede Generation zuvor - und sie haben eine Verbindung zur Hipness der Vergangenheit, von der wir Nachgeborenen nur träumen können. Warum, zum Teufel, gehen sie nicht mehr ins Kino? Warum haben sie aufgehört, die Helden, die sie geprägt haben, zu begleiten, zu unterstützen, zu lieben? Den Musikern jener Zeit ist es gelungen, ihre Generation bei der Stange zu halten und trotzdem neue Fans zu gewinnen - Verkaufserfolge feiert die Musikbranche, auch unter jungen Fans, heute mit Namen wie Led Zeppelin oder Pink Floyd. Auf dem Literaturmarkt verkaufen sich vor allem Senioren wie Philip Roth und Hans Magnus Enzensberger lastwagenweise.

Auch das Kino sehnt sich nach den Helden seiner Vergangenheit - und ist doch unfähig, würdig mit ihnen umzugehen. Gerade jene Menschen, die eine bessere Zeit noch erlebt haben, geben sich heute mit lächerlichem Ersatz zufrieden: Der öffentlich-rechtliche Fernsehmüll der Firma Degeto ersetzt das große Melodram, das gerade die Deutschen einmal brillant beherrscht haben, Event-Hysterie im Fernsehen ersetzt das kollektive Kinogefühl, und sage und schreibe Veronica Ferres besetzt allein einen Raum, den sich früher mindestens fünf wirklich große Schauspielerinnen teilen mussten.

Noch der abgebrühteste Zyniker spürt, dass das keine Wahrheit ist, dass der Schwindel irgendwann auffliegen muss, dass das Karussell der Galas und Lobhudeleien und Preisverleihungen eines Tages krachend auseinanderbricht. Nur um den Schein noch ein wenig länger zu wahren, lädt man einen wie Jean-Luc Godard ein - und wird dann ernsthaft böse, wenn er die einzige Antwort darauf gibt, die mit der Würde des Alters noch vereinbar ist.

Über die Würde

Eines Abends im Jahr 1969 saßen Orson Welles und Peter Bogdanovich zusammen und unterhielten sich über diese Würde des Alters, die im Kino schon damals ein Problem war. Sie waren in einer Bar in Guaymas, Mexico, wo Welles gerade in "Catch-22" mitspielte. Weil das Thema ihrer Unterhaltung so traurig war, waren sie schon nach kurzer Zeit sehr betrunken.

Sie zählten die Namen der großen Regisseure auf, die in ihren letzten Lebensjahren keinen Job bekommen hatten, es waren die größten Namen: D.W. Griffith, der Erfinder Hollywoods - bis Hollywood einfach ohne ihn weitermachte. Josef von Sternberg, Fritz Lang, Jean Renoir, King Vidor, John Ford, alle noch fit, sarkastisch, voll unendlichen Wissens über das Kino: und alle seit Jahren arbeitslos. "Filmemachen ist wie jede andere Obsession", sagte Bogdanovich: "Man kommt nie davon los."

Und Orson Welles, der "Citizen Kane" gedreht hatte, den besten Film aller Zeiten (aber leider schon im Alter von 25 Jahren), er zählte die Dirigenten auf, die mit über 70 Jahren erst ihren Zenit erreicht hatten: Klemperer, Beecham, Toscanini... "Das Einzige, was alte Menschen am Leben erhält, ist Macht", sagte er: "Nimm de Gaulle oder Churchill oder Tito oder Mao die Macht weg, und sie sind nichts als babbelnde Greise. Aber gib einem alten Genie seine Macht zurück - und du wirst seine größte Zeit erleben." Am nächsten Tag begann Orson Welles sein letztes Regieprojekt. Es hieß "The Other Side Of The Wind" und handelte von einem alten Genie, das die Welt nochmal herausfordert. Welles arbeitete die nächsten fünfzehn Jahre daran. Bis zu seinem Tod. Fertig wurde der Film nicht. Traurig ist das. Allerdings doch auch glamouröser als ein Ehrenpreis.

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