NS-Vorwürfe gegen Habermas:Verleumdung wider besseres Wissen

Kommt nach Günter Grass nun auch Jürgen Habermas unter Verdacht? Wohl kaum. Joachim Fest und Cicero erheben ihre Vorwürfe zu Unrecht.

Andreas Zielcke

An Deutlichkeit lässt der Brief von Jürgen Habermas an die Zeitschrift Cicero nichts zu wünschen übrig. In dem Schreiben, das er am Mittwoch dem Chefredakteur von Cicero schickte, verwahrt sich der Philosoph in scharfer Form gegen einen soeben in der Novemberausgabe des Magazins erschienenen Bericht, den der Publizist Jürgen Busche verfasst hat. Busche begibt sich in seinem Artikel auf eine, wie er selbst sagt, "Spurensuche" - der Suche nach einer angeblichen Wahrheit über Habermas im Dritten Reich.

NS-Vorwürfe gegen Habermas: Jürgen Habermas

Jürgen Habermas

(Foto: Foto: dpa)

Habermas als überzeugter HJ-Führer

Doch wenn je eine Suche untauglicher zur Wahrheitsfindung und umso tauglicher zur Verunglimpfung gewesen ist, dann diese. Der Artikel ist ein Dokument der Infamie.

Grundlage von Busches Beitrag ist eine Passage in der Autobiografie von Joachim Fest, die unter dem Titel "Ich nicht" im September bei Rowohlt erschienen ist, kurz vor Fests Tod. Fest befasst sich in dieser Passage mit ehemaligen NS-Tätern, die sich nach dem Krieg durch "großes Verleugnen" hervorgetan hätten; Günter Grass spätes Geständnis bietet ihm hier den aktuellsten Anlass.

Aber es gebe, setzt er fort, noch andere Wege der "Ausflucht". Einer dieser Wege werde von einem der "führenden Köpfe des Landes berichtet". Gemeint ist, ohne dass der Name fällt, Jürgen Habermas - Kontext und Vorgeschichte lassen keinen Zweifel. Jürgen Habermas also wird nun von Fest als "dem Regime in allen Fasern seiner Existenz verbundener HJ-Führer" vorgestellt.

Später, in den achtziger Jahren, "habe ein ehedem Untergebener ihm, als seinem früheren HJ-Vorgesetzten, ein von diesem im Frühjahr 1945 verfasstes Schreiben über den Tisch gereicht, das ein leidenschaftliches Bekenntnis zum Führer und die unerschütterliche Erwartung des Endsiegs enthielt."

Fest berichtet wider besseres Wissen

Daraufhin habe Habermas - "nach dem Zeugnis mehrerer Teilnehmer und Eingeweihter" - das Papier zerknüllt, in den Mund gesteckt und heruntergeschluckt. Fest beendet diesen Absatz mit dem abschließenden Kommentar: "Man mag darin eine Art Schadensabwicklung sehen, die Belastungen der Vergangenheit für sich persönlich loszuwerden."

Man erinnere sich: "Eine Art Schadensabwicklung" war der Titel des im Juli 1986 in der Zeit veröffentlichten großen Aufsatzes von Jürgen Habermas gegen jenen Beitrag von Ernst Nolte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der im Juni 1986 den Historikerstreit auslöste. Joachim Fest war damals Herausgeber der FAZ.

Joachim Fest hat die Passage in seiner Autobiografie wider besseres Wissen geschrieben. Anfang April dieses Jahres hatte er sich mit einem Brief an den Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler gewandt und um Auskunft gebeten. Wehler ist in dieser Sache der Hauptzeuge. Er ist jener "ehedem Untergebene", der in derselben Gruppe der Hitlerjugend wie Habermas und diesem in der Tat "untergeben" war, weil er an einem Erste-Hilfe-Kurs der HJ teilnahm, den Habermas als jugendlicher Sanitäter - in der NS-Terminologie als "Feldscher" - leitete.

Und Wehler ist auch derjenige, der Habermas das ominöse Schriftstück ausgehändigt hat, das dieser angeblich vor Zeugen verschluckt hat. Mit Brief vom 18. April dieses Jahres antwortete er Fest und schilderte diesem darin den Sachverhalt, so wie er ihn selbst erlebt hatte.

Verleumdung wider besseres Wissen

Der Süddeutschen Zeitung gibt Wehler diesen Sachverhalt so wieder: Habermas sei kein HJ-Führer gewesen; schon wegen seiner Körperbehinderung hätten die Nazis ihn nie und nimmer eine Vorgesetztenfunktion übernehmen lassen. Tatsächlich habe der damals etwa 14-Jährige innerhalb der HJ für Jugendliche Kurse zur Ersten Hilfe gegeben, für die er als "Feldscher" ausgebildet worden sei.

Komplott der Kolporteure

Zu seinen Aufgaben als Leiter dieser Kurse habe es gehört, Kursteilnehmer, die den festgelegten Stunden fernblieben, mit sogenannten "Aufforderungsschreiben" zu pünktlicher Anwesenheit zu mahnen. Diese Schreiben seien vorgefertigte Formulare gewesen, in die der Kursleiter lediglich die Daten der Teilnehmers eintrug, versehen mit seiner Unterschrift.

20 Jahre später, in den sechziger Jahren, seien die Ehepaare Wehler und Habermas zusammengesessen, und er, Wehler, habe Habermas an die gemeinsame Zeit in dem Kurs der HJ erinnert und auch an jenes Aufforderungsschreiben, dass er von ihm wegen Schwänzens erhalten habe. Er versprach Habermas, der dieses Detail längst vergessen hatte, das Schriftstück - das er seinerzeit aufbewahrt habe, weil er sich darüber geärgert hatte - zuzuschicken, was er dann auch tat.

Ein Jahr später trafen sich die beiden Ehepaare wieder, und Wehler fragte die Ehefrau von Habermas beiläufig, ob denn das Schriftstück eingetroffen sei und was Habermas damit getan habe. Darauf habe Frau Habermas sinngemäß geantwortet: "Du kennst ja Jürgen, er hat es verschluckt." Dass dies ein Scherz gewesen sei, sagt er, war offensichtlich.

Dies also habe er Fest geschrieben. Habermas ein HJ-Führer, Habermas ein Hitler leidenschaftlich ergebener Anhänger und vom Endsieg Überzeugter - alles absoluter Blödsinn. Und ebenso Unsinn, dass Habermas das - eh völlig harmlose - Schriftstück verspeist habe, zumal er es mit der Post erhalten habe.

Warum ließ sich Fest zu dieser Verleumdung hinreißen?

Joachim Fest war mithin über das wirkliche Geschehen durch den einzigen Zeugen, der Gewissheit verschaffen konnte, im Bilde - soweit man durch Zeugenaussagen überhaupt historische Gewissheit erlangen kann. Er hat sich bei Wehler für dessen Brief bedankt, aber sich nicht abhalten lassen, die zitierte Passage zu verfassen und aufrechtzuerhalten.

Darüber, warum er sich zu dieser Verleumdung hinreißen ließ, kann man jetzt nur noch spekulieren. Das Mindeste, was er seriöserweise hätte tun müssen, ist, die Version von Wehler gegen das kolportierte Gerücht zu setzen. Die Gräben und Wunden, die der Historikerstreit gerissen hat, müssen tief und bis zuletzt offen geblieben sein, um solche Attacken zu erklären, die jeder historischen Fairness spotten. Fest war selbst ein zu Recht gerühmter Historiker.

Der Konstanzer Philosoph und Wissenschaftshistoriker Gereon Wolters war bereits vor zwei Jahren dem Gerücht um Habermas' angebliche orale Vernichtung eines Schriftstücks, das eine NS-Verstrickung dokumentiere, nachgegangen. Er war, wie er der SZ bestätigt, durch Hermann Lübbe darauf gestoßen, der das Gerücht, wenn auch in einer abgeschwächten Variante, schon bald nach dem Beginn des Historikerstreits in einem Aufsatz verbreitet hatte - Lübbe, der selbst als Jugendlicher Mitglied der NSDAP war, was er freilich in diesem Zusammenhang verschwieg.

Das Ergebnis der Recherche von Wolters entspricht der Darstellung von Hans-Ulrich Wehler und ist in der Reihe "Bonner Reden" in der Bonn University Press 2005 publiziert.

Perfide Insinuation

Und diesen Aufsatz wiederum kannte Jürgen Busche, er nimmt sogar Bezug auf Wolters. Während aber Fest sich das Gerücht als angeblich wahren Bericht von glaubhaften Zeugen schlicht zu eigen macht, geht Busche in seinem Cicero-Beitrag vorsichtiger und zugleich perfider vor. Der von ihm gestellten Frage "Gerücht oder Ungeheuerlichkeit?" geht er nicht nach, indem er Habermas oder Wehler ins Kreuzverhör nimmt oder andere, neutrale Quellen auswertet.

Er sucht die Antwort vielmehr auf dem Wege der subjektiven historischen Zuschreibung und des Einsatzes von Ressentiment und Alltagsverstand: "Wenn das Schriftstück nach so langer Zeit... für wert befunden wurde, es dem ursprünglichen Absender eigens zuzuschicken, wenn sich der vielbeschäftigte Geschichtsprofessor dann noch nach dem Verbleib erkundigte, dann hat wohl mehr darauf gestanden als nur das Vorgedruckte." Habe also Habermas mindestens "Heil Hitler" darauf geschrieben?

Dürfen wir tatsächlich von der heutigen Vielbeschäftigung eines Professors auf Habermas' NS-Verstrickung schließen? Eine obszöne Konjunktion. Doch allein diese Vermutung treibt Busche an, über die "Verstrickung einiger der besten deutschen Philosophen in die Herrschaft der Nationalsozialisten" nachzudenken.

Er kommt sogleich auf Heidegger, wirft dabei aber Habermas vor, dieser habe Heideggers NS-Nähe übermäßig skandalisiert - und ihm dadurch zusätzliches Gewicht in der Philosophie verschafft. Um aber wiederum dieser Kritik an seiner Person zu entgehen, "mag" für Habermas "wohl ein panikartiger Anfall sinnvoll erscheinen" - panikartig soll ja in der Version von Joachim Fest das Verschlucken des belastenden Schriftstücks vor aller Augen gewesen sein.

Die Logik von Busches Argumentation ist beim besten Willen nicht nachzuvollziehen, hängen bleibt nur eine diffus, aber nachdrücklich insinuierte NS-Nähe von Habermas. Er dreht die Fakten im Kreise, lehnt die Version von Fest als unwahrscheinlich ab, kommt aber ohne sie nicht hin und malt sich aus, wie es wäre, hätte Habermas das Dokument nicht vernichtet: Dereinst würde man öffentlich darauf deuten: "Siehe da, der also auch!"

Im Editorial der Zeitschrift wird ohne Umschweife nur die bösartige Version von Fest übernommen, und auf der Titelseite des Magazins lautet in großen Lettern das Aufforderungschreiben der Cicero-Redaktion: "Vergesst Habermas!"

Jürgen Habermas wirft in seinem Brief an Cicero Jürgen Busche, aber auch Joachim Fest, auf dessen Passage er erst durch Busches Artikel aufmerksam gemacht worden ist, "Denunziation" vor. Diese sieht er als Fortsetzung einer politischen Hetze, der er in den siebziger und achtziger Jahren ausgesetzt gewesen sei. Im übrigen schildert er die Geschehnisse um sein damaliges HJ-Schreiben an Wehler eben so, wie es dieser getan hat.

Niemand muss ihm und Wehler unbesehen und ungeprüft glauben und ihre Worte als unbestreitbare historische Wahrheit ansehen. Ein solches Wahrheitsprivileg genießt keiner, schon gar nicht der Verfechter des unbedingten kontroversen Diskurses. Doch umgekehrt muss jeder, der jemanden mit solchen "Ungeheurlichkeiten" belasten will, handfeste Beweisstücke oder doch wenigstens starke Indizien vorlegen, die den schweren Vorwurf belegen können.

Dass der Vorwurf in der Gestalt des Gerüchts die Methode ist, gegen die sich der Betroffene am wenigsten wehren kann, weiß Busche natürlich. Bei den Germanisten, deren NS-Vergangenheit man vor kurzem aufgedeckt hat, und zuletzt bei Günter Grass wurden schrille und auch parteiliche Töne angeschlagen, aber an den Fakten gab es nun mal wenig zu rütteln. Bei Jürgen Habermas muss man die fehlenden Fakten durch Polemik und üble Nachrede ersetzen. Mag dieser Diskurs herrschaftsfrei sein, ohne Abrechnungsbedürfnis funktioniert er nicht.

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