Norwegische Literatur:Das Rätsel der Zigarrenkiste

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Auf der Suche nach der verlorenen Familie: "Ein treuer Freund", der neue Roman von Jostein Gaarder, dem Autor von "Sofies Welt", ist in jeder Zeile eine Herausforderung zur Interpretation.

Von Hannelore Schlaffer

Jostein Gaarder: Ein treuer Freund. Roman. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Carl Hanser Verlag, München 2017. 270 Seiten, 22 Euro. E-Book 16,99 Euro. (Foto: Hanser)

Wie Prousts Marcel, so befindet sich auch Jakob, der Erzähler von Jostein Gaarders neuestem Roman, auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Anders aber als Marcel tut er dies nicht, indem er von Soiree zu Soiree zieht, er streift vielmehr von Beerdigung zu Beerdigung. Fast jedes Kapitel des Buches führt eine andere Trauergemeinde vor. Die Gäste des Leichenschmauses kennen sich teilweise nur, sie lernen sich aber im Gang der Handlung immer besser kennen, nicht zuletzt wegen der wahren oder fingierten Berichte, die Jakob über die verstorbenen Personen oder deren Verwandte und Freunde erzählt.

Jakob ist stets der Eindringling, der nicht zur Familie gehört und auch nicht zum engeren Freundeskreis des Verstorbenen. Er ist ein "Eigenbrötler und Außenseiter", der eine schwere Kindheit hinter sich hat. Dadurch entstand seine seltsame Neigung, sich Leidtragenden anzuschließen, denn er ist nicht eigentlich auf der Suche nach einer verlorenen Zeit, sondern vor allem auf der nach der verlorenen Familie.

Kein Fest vereinigt die in alle Welt versprengte Familie heutzutage noch einmal so vollzählig wie die Beerdigung. Jakob aber, der Eindringling in diese Intimität, tischt bei den Gastmahlen danach Gedanken an noch ganz andere Familien auf: solche nämlich von Wörtern. Wortfamilien vor allem faszinieren diesen Philologen und Nordisten, der sich mit dem Ursprung der Sprache, mit altnordischen Mythen und dem "prekären Machtgefüge zwischen Göttern und Trollen" beschäftigt.

Bei den Belehrungen der Tischgesellschaften über das, was er die "Erbwörter" nennt, gerät er nicht selten in Streit mit jungen Frauen, die, als Schülerinnen etwa eines gerade zu Grabe getragenen Professors, selbst mit der Wissenschaft vertraut sind und sich in ein intellektuelles Gefecht mit dem Kollegen wagen. Dieses neue Buch von Jostein Gaarder, der schon in seinem internationalen Bestseller "Sofies Welt" mit der Briefform spielte, ist daher auch ein Buch der starken und kämpferischen Frauen - und Frauen, falls sie das Buch lesen sollten, werden sich denn auch der etymologischen Lektionen erfreuen, durch die sie etwa erfahren, dass zwischen so bedeutungsfernen Wörter wie "Dom" und "Dame" ein "erbwortschaftlicher" Zusammenhang besteht.

"Du siehst nur die Rose, nicht den Grund, aus dem die Rose wächst"

Was aber hat es nun mit dem "treuen Freund" auf sich, der dem Buch den Titel gibt und der diesen Monolog eines versponnen Wissenschaftlers zum Roman macht? Eigentlich nämlich ist das Buch kein Roman, sondern ein Brief, und Pelle ist darin des Schreibers Freund, in den sich Agnes, die Adressatin der Blätter, zu dessen Unglück verliebt. Diesen Freund Pelle "streift" der Erzähler des Öfteren "über den Arm" - und der verdutzte Leser fragt sich, was das denn zu bedeuten habe? Aus spärlichen Andeutungen des Autors reimt er sich zusammen, was jener sehr spät erst ausdrücklich sagt: Pelle ist "eine sorgfältig gestaltete Handpuppe".

Mit den Andeutungen aber beginnt das Rätselraten, das den Roman nicht grade zum "Krimi" macht, wohl aber zum Kriminalbericht über eine geheime Seelenverwandtschaft. Pelle ist das Alter Ego des Erzählers, Pelle spricht - angeblich - flüssiger, faszinierender, anspielungsreicher als sein Besitzer, ja er ist sogar gescheiter als er. Die Vorlesungen hält deshalb der Nordist nicht alleine, sondern nur im Zwiegespräch mit ihm.

Dies alles mag der Leser als Anreiz nehmen zu Überlegungen darüber, was denn nun eigentlich mit Pelle gemeint sei. Durch seine Vermutungen beteiligt er sich gewissermaßen an der Niederschrift des "Romans" und versucht Deutungen dessen, was der Autor habe sagen wollen, wofür etwa, für welche Eigenschaft Pelle einstehe? Ist er ein Symbol, ein geheimer Charakterzug? Ist er, der im Schrank in einer Zigarrenkiste unter "Herrenwäsche" versteckt wird, und, entdeckt von der Ehefrau, diese sofort zur Auflösung der Ehe bewegt, gar ein Symbol der Homosexualität seines Besitzers?

"Du siehst", so belehrt dieser im monologischen Erinnerungsprotokoll seine Adressatin Agnes, die von Pelle begeistert ist, "nur die Rose, nicht den Grund, aus dem die Rose wächst. Du siehst die Puppe auf dem Arm des Puppenspielers, aber du hast keine Augen für den Puppenspieler selbst." Auch der Leser durchschaut die kryptischen Andeutungen, die der Text enthält, nur, wenn er an der Tiefenforschung des Briefschreibers teilnimmt und sich für Seelenverwandtschaften ebenso leidenschaftlich interessiert wie der Autor für die Erbforschung der Wörter, der Wortfamilien und der Familien überhaupt. Dieser skurrile Roman ist in jeder Zeile eine Herausforderung zur Interpretation: Nur der Seelenkundige wird den geheimen Bekenntnissen dieses Wort-Familien-Forschers gewachsen sein.

© SZ vom 28.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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