Nobelpreisrede von Le Clézio:Kühner Gewaltakt

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Gleich nach der Abschaffung des Welthungers fordert Literatur-Nobelpreisträger Jean-Marie Gustave Le Clézio die Alphabetisierung - damit alle am Literaturgenuss teilhaben können.

Burkhard Müller

Reden, die man hält, um eine Auszeichnung entgegenzunehmen, sind nicht der Ort, um Originalität zu betätigen. Der Ehren wert erweist sich vielmehr, wer seine individuelle Leistung nachdrücklich jener Allgemeinheit erstattet, die sie ihm heute verleiht; und zwar erwartet man solchen Nachdruck desto mehr, um je höhere Ehren es sich handelt.

Noble Sehnsucht: Literatur-Nobelpresiträger Jean-Marie Gustave Le Clézio in Stockholm. (Foto: Foto: dpa)

"Im Wald der Paradoxe" betitelte der diesjährige Träger des Literatur-Nobelpreises, Jean-Marie Gustave Le Clézio, seine "Nobel Lecture", die er am Sonntagabend in Stockholm hielt. Dass er den Preis bekam, war eine Überraschung; seine Paradoxe sind es nicht.

Doch trägt er sie vor im Ton unverjährter Dringlichkeit. "Schauen Sie einen Augenblick auf den stachligen Baum im innersten Herzen des Waldes, wo der Autor lebt: Dieser Mann, diese Frau, die so fleißig schreiben und ihren Traum erfinden - zählen sie nicht zu den vom Glück begünstigten, exklusiven ,happy few'? (. . .) Die Vorstellung, dass Literatur der Luxus einer herrschenden Klasse ist, gespeist von Ideen und Bildern, die der riesigen Mehrheit fremd bleiben: Da liegt die Quelle des Elends, das wir alle fühlen - wobei ich mit ,uns' die meine, die lesen, die schreiben. Natürlich würde man sich gern an alle wenden, die ausgeschlossen sind, sie großherzig einladen zum Bankett der Kultur. Warum ist das so schwierig?"

Fruchtbarer Schmerz

Dass, wer die Idee der Menschheit und Menschlichkeit vertritt, dies nur im umschriebenen Raum des Privilegs tun kann, schmerzt Le Clézio; aber diesen Schmerz eben will er fruchtbar machen.

Er ruft die Erinnerungen seiner Kindheit während des Krieges auf, als es ihm an allem gebrach, und ganz besonders an Büchern und Schreibmaterial. An Wörterbüchern musste er seine Leselust stillen, denn sonst gab es nichts. Und er berichtet, wie er im Alter von sechs Jahren sein erstes Werk über einen Phantasiekönig mit dem Namen Daniel III. schrieb - "War er vielleicht gar ein Schwede?" - , und zwar mit einem blau-roten Zimmermannsstift auf die Rückseite alter Hefte. "Daher habe ich bis heute eine gewisse Vorliebe für raues Papier und gewöhnliche Bleistifte."

Das könnte leicht zu einer selbstverliebten und sentimentalen Story "Vom Tellerwäscher zum Millionär" ausarten - oder was ihr Äquivalent im Geistigen wäre -, wenn man nicht in dieser persönlichen Reminiszenz die noble Sehnsucht spürte, dass, wie ihm, dieser Schritt allen offenstünde, als Möglichkeit, besonders aber als Wunsch.

Um sein Paradox aufzulösen, schlägt Le Clézio zwei verschiedene Wege ein. Zum einen fordert er die universale Alphabetisierung, die er als Notwendigkeit gleich nach der Abschaffung des Hungers in der Welt benennt. Das geht einher mit der Apologie des Buchs in seiner klassischen Form. "Es ist praktisch, leicht zu handhaben, ökonomisch. Man braucht dafür keine besondere technologische Begabung, und es hält sich gut in jedem Klima." Der letzte Punkt hat für den tropenerfahrenen Le Clézio, der alle stromabhängigen Geräte in den Regenwäldern dieser Erde kollabieren sah, spezielle Bedeutung.

Und zum anderen gilt ihm die Literatur als die Krone des wichtigsten Menschenvermögens, der Sprache, oder vielmehr der ungezählten einzelnen Sprachen, auch und gerade der kleinen, die selber zur Schriftlichkeit nicht gefunden haben. Als dieses, als Krone, muss sie nicht allumfassend sein, es genügt, dass sie den Willen zur Mitvertretung besitzt, der sich freilich von der Überwältigung nicht immer klar scheiden lässt.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, von wem Le Clézio in den höchsten Tönen schwärmt.

Mit zwiespältigen Gefühlen spricht Le Clézio von dem nordkanadischen Ureinwohner, der, um seine Beschwerde an die Zentrale zu formulieren, die Herrschaftssprachen Englisch oder Französisch benutzen muss - aber auch kann und darf. Der Laureat nimmt seinen Preis eigentlich nur entgegen, um ihn nach beiden Seiten hin weiterzureichen:

Er liefert eine unendliche, die Geduld der Zuhörerschaft gewiss ermüdende Liste jener Schriftsteller, die je Literatur in seinem Sinn verfasst haben, welche bei Dante und Marco Polo anfängt und bei Wole Soyinka noch lang nicht aufhört. Dann aber konzentriert er sich auf einen einzelnen Menschen. Ihm begegnete er, als er sich mehrere Jahre lang bei dem Indianervolk der Emberá im Urwald von Panama aufhielt.

"Aber eines Nachts kam eine junge Frau. Sie hieß Elvira. Im ganzen Wald der Emberá war sie bekannt, weil sie so gut Geschichten erzählen konnte. Sie war eine Abenteurerin und lebte ohne Mann, ohne Kinder - die Leute sagten, dass sie ein bisschen eine Säuferin, ein bisschen eine Hure war, aber ich glaube es nicht eine Sekunde - und sie ging von Haus zu Haus, um zu singen, im Austausch für etwas zu essen oder eine Flasche Alkohol oder manchmal auch ein paar Münzen.

Obwohl ich zu ihren Erzählungen keinen Zugang hatte außer durch die Übersetzung (die Sprache der Emberá hat eine literarische Variante, weit komplexer als die Alltagssprache), ging es mir bald auf, dass sie eine große Künstlerin war, im besten Wortsinn. Das Timbre ihrer Stimme, der Rhythmus ihrer Hände, wenn sie sich gegen die Brust schlug und gegen ihre schweren Halsketten aus Silbermünzen, und vor allem die Hingerissenheit in ihrem Gesicht und in ihren Augen, eine Art von abgemessener rhythmischer Trance, übten ihre Macht aus über alle, die dabei waren.

Leiser Argwohn

Dem einfachen Grundgerüst ihrer Mythen - der Erfindung des Tabaks, der uranfänglichen Zwillinge, Geschichten von Göttern und Menschen seit der Morgendämmerung der Zeiten - fügte sie ihre eigene Geschichte hinzu, ihr Wanderleben, ihre Liebeserlebnisse, den Verrat und das Leiden, die intensive Freude fleischlicher Liebe, den Stachel der Eifersucht, ihre Angst vor dem Alter und vor dem Sterben.

Sie war Poesie in Bewegung, antikes Theater und zeitgenössischer Roman, alles gleichzeitig. All dies war sie mit Feuer, mit Gewalt, sie erzeugte in der Schwärze des Waldes, inmitten des Chors von Insekten und Kröten und des Wirbelwinds der Fledermäuse, eine Empfindung, die man nicht anders nennen kann als Schönheit."

Liest man das (oder hört man es, wie es die Stockholmer Gäste am Sonntag taten), so ist man erst sehr gerührt von der liebevollen Ehrerbietung, mit der Le Clézio im Weltenzentrum des Geistes dieser Künstlerin von den äußersten Rändern gedenkt.

Dann schleicht sich ein leiser Argwohn ein - wie will der Vortragende, da er es sich doch wohl recht behelfsweise übersetzen lassen musste, eigentlich ihre wahre, unauflöslich in ihre eigene komplexe Sprache eingesenkte Qualität ermessen? Und schließlich muss man sich sagen, dass alles, wofür der Stockholmer Preis steht, sich nicht anders vermitteln lässt als so, im kühnen Gewaltakt, der die Sprach- und Kulturgrenzen überspringt, um auf der anderen Seite ein möglicherweise arg durchgeschütteltes, aber noch vorhandenes und erkennbares Gut abzuliefern.

Le Clézio, der unvorhergesehene Preisträger, hat jedenfalls mit dieser Widmung dem Literatur-Nobelpreis in seinem höchsten Sinn, der Behauptung nämlich, dass es so etwas wie eine Weltliteratur gäbe, seine ernste und glaubhafte Reverenz erwiesen.

© SZ vom 9.12.2008/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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