Nick-Cave-Comic:Wo die wilden Rosen blühen

Das klingt doch mal nach einem richtig guten Plan: Reinhard Kleist, der unangefochtene Meister im biografischen Genre, hat eine Comic-Biografie zu dem Dunkelrocker Nick Cave vorgelegt. Doch ging sein Plan auf?

Von Thomas von Steinaecker

In ökonomisch schwierigen Zeiten sind Biografien für Verlage eine verhältnismäßig sichere Kiste. Das gilt insbesondere für den Comic, der angeblich boomt, auch wenn es im deutschsprachigen Raum kaum einen Zeichner gibt, der von Buchverkäufen tatsächlich leben kann. Ähnlich wie bei Klassiker- oder Bestseller-Adaptionen ist das Risiko bei Bild-Biografien berühmter Persönlichkeiten meistens überschaubar. Die Fans wollen ohnehin jedes Produkt über ihr Idol haben, die Interessierten freuen sich darüber, ihre Bildungslücke durch eine Art visuellen Schnellkurs, als der der Comic immer noch häufig gilt, zu schließen; ein paar Fakten, fühl- und konsumierbar gemacht durch gezeichnete Szenen und damit voll im Trend der populären Doku-Fiction. Allerdings lauert hier die biografische Falle: In einer Epoche, die das Individuum abfeiert, ist die Vorstellung angenehm, wir seien Herr im eigenen Haus und unserer Handlungen, im Nachhinein betrachtet ebenso folgerichtig wie folgenreich gewesen; Biografie als säkulare Heilsgeschichte. Dass es zunehmend schwerer fällt zu definieren, was ein Ich überhaupt ausmacht, wird dabei ebenso unter den Tisch gekehrt wie die unbequeme Erkenntnis, dass Konzepte wie Authentizität oder Echtheit in Wahrheit das Ergebnis ausgefeilter Konstruktion darstellen.

Wie Johnny Cash ist es Nick Cave früh gelungen, sich selbst zur Kunstfigur zu stilisieren

Unter den deutschen Comic-Künstlern ist der Berliner Zeichner und Autor Reinhard Kleist der unangefochtene Meister im biografischen Genre. Sein "Johnny Cash. I See A Darkness" wurde 2006 zu einem der international bekanntesten deutschsprachigen Comics. Den Erfolg allein mit Cashs Comeback zu erklären, das damals mit den späten American-Recordings in vollem Gange war, greift zu kurz. Das Buch war keine konventionelle Biografie, sondern entzifferte die unheimliche Ikonografie des "Man in Black" und spann sie gleichzeitig lustvoll weiter. So liegt eine gewisse Logik darin, dass sich Kleist nach einer eher traditionellen Lebensbeschreibung Castros und zwei außergewöhnlich bewegenden biografischen Pionierarbeiten über einen jüdischen Boxer im Dritten Reich und eine 2012 auf der Flucht im Mittelmeer ertrunkene Leichtathletin nun dem australischen Sänger, Songschreiber und Dichter Nick Cave zuwendet.

Wie Johnny Cash ist es Cave früh gelungen, sich selbst zur Kunstfigur zu stilisieren. Dabei zapft er ähnliche Bild-Reservate an: Western, Horror, Altes und Neues Testament. Bei seinen Auftritten umgibt den kettenrauchenden, wortkargen Cave mit seinem schwarzen Anzug und dem langen zurückgekämmten Haar eine Aura des Düsteren, als entstamme er selbst dem Szenario eines seiner Songs, die von grausamen Mördern, schönen Huren und der Hoffnung auf Erlösung durch Jesus Christus handeln. Was Caves Songs neben seiner markanten Stimme und der mal mitreißend-wilden, mal berührend balladesken Musik seiner Band The Bad Seeds auszeichnet, sind die ausgefeilten Texte, die bereits beim ersten Hören starke Bilder im Kopf entstehen lassen. "Take a little walk to the edge of town / And go across the tracks / Where the viaduct looms / Like a bird of doom / As it shifts and cracks", heißt es etwa in "Red Right Hand".

Nick-Cave-Comic: Zwischen Ezra Pound und Elvis Presley: der Dichter/Sänger Nick Cave und seine Idole.

Zwischen Ezra Pound und Elvis Presley: der Dichter/Sänger Nick Cave und seine Idole.

(Foto: Carlsen)

Dazu passt, dass sich auch die Eckdaten von Caves Leben lesen, als hätte ein Schriftsteller den Auftrag erhalten, sich den Prototypen eines Rockmusikers auszudenken: Im australischen Kaff Warracknabeal geboren, gründet der rebellisch veranlagte Jugendliche mit einem Faible für Dostojewski zusammen mit ähnlich schillernd-abgehalfterten Gestalten 1978 die Punkband The Boys Next Door, aus der, als man der Karriere wegen nach London geht, The Birthday Party wird. Ihre Auftritte sind bald legendär, nicht allein wegen ihres Lärmpegels, sondern weil sie regelmäßig in Schlägereien enden. 1982 zieht man weiter ins wilde West-Berlin, wo jeder, wie es im Comic heißt, "auf der Flucht vor der Realität ist". Cave trifft auf einen Seelenverwandten: Blixa Bargeld.

Es ist die Geburt der Band Nick Cave and The Bad Seeds, die für Cave den Durchbruch bedeutet und mit ihrer Mischung aus Punk, Rock und Blues, sowie nicht zuletzt mit ihrer schwarzromantischen Ästhetik stilbildend wird. Aber das exzessive Rock'n'Roll-Leben hat seinen Preis: Cave ist heroinabhängig; während er seinen ersten Roman schreibt, "Und die Eselin sah den Engel", klinkt er sich zunehmend aus der Wirklichkeit aus, zerstreitet sich mit seiner australischen Muse Anita Lane und seinen immer noch schlechter gelaunten Bandkollegen, muss in die Entzugsklinik - und kehrt mit tiefen seelischen Narben zurück, deretwegen ihn seine Fans natürlich nur umso mehr lieben.

Leseprobe

Ein ausgefuchster Erzähler wie Reinhard Kleist wird schnell darauf gekommen sein, dass diese Geschichte, erzählt man sie ungebrochen, hart am Rockstar-Klischee von schnellem Aufstieg, tiefem Fall und glorreicher Rückkehr entlangschlittert. Also haben vier der fünf Kapitel Figuren aus Caves düsterem Geschichten-Kosmos als Erzähler, etwa die ermordete Schönheit Elisa Day aus dem Hit "Where the Wild Roses Grow" oder der zum Tode Verurteilte aus "The Mercy Seat", die dieselben Episoden aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Im abschließenden fünften Teil unternimmt Cave schließlich eine surreale Autofahrt nach Genf zum Cern, um symbolisch mehr über den "Anfang der Schöpfung" zu erfahren, was stark an die angenehm abgedrehte Pseudo-Doku "20 000 Days On Earth" über einen fiktiven Tag im Leben Caves erinnert.

Wundervoll ist Cave als Astronaut, der seiner Geliebten aus dem Orbit ein Papierflugzeug zuwirft

Klingt eigentlich nach einem guten Plan, nur: Warum wirkt das Buch so seltsam substanzlos? Auf inhaltlicher Ebene halten sich die Erkenntnisse über Caves Leben in Grenzen. Es ist anzunehmen, dass dem Projekt allein dadurch Grenzen gesetzt waren, dass Cave jedem Detail seine Zustimmung geben musste. "Mercy On Me" liefert denn auch gerade mal jene Geschichten, die man ohne größere Mühe im Internet findet, ohne dabei überraschende oder gar differenzierte Einblicke in Caves Charakter zu bieten oder am offiziellen Bild zu kratzen. Dass der Comic, der ohne Jahreszahlen auskommt, dann ohne erkennbaren Grund Mitte der 1990er endet und damit Caves überraschende Verwandlung in eine einigermaßen bürgerliche Existenz ausblendet, irritiert zusätzlich.

Immer wieder fällt der Satz, Cave wolle um jeden Preis schockieren und anders sein - eine Antwort darauf, warum, bleibt der Comic schuldig. Was aber noch schwerer wiegt, ist die visuelle Ebene. Natürlich sind Kleists schwarz-weiße Tuschebilder erneut großartig gezeichnet und komponiert; aber die Hauptfigur beherrscht schon als kleiner Junge die lässige Pose so perfekt, dass den Leser manchmal das ungute Gefühl eines bloßen Fan-Comics beschleicht. Das große Potenzial der Neunten Kunst, eine Kontextualisierung oder gar dekonstruierende Analyse der Ikonizität Caves, bleibt ungenützt. Der Mehrwert der Sequenzen mit Caves Auftritten tendiert im Vergleich zu Videos oder Fotos gleich null. Nur ab und zu blitzt auf, was dieser Comic hätte sein können. Regelmäßig wird die Biografie von Cave-Songs unterbrochen, die Kleist in hinreißende Kurz-Comics verwandelt. Hier nimmt er sich jene Freiheiten, die er sich bei der Bebilderung der biografischen Szenen zu selten gestattet. Wie wundervoll der Einfall, in "The Letter" Cave zum Astronauten zu machen, der seiner Geliebten aus dem Orbit ein Papierflugzeug zuwirft. Und wie bedauerlich, dass das Buch unentschlossen zwischen braver Biografie und mutiger Bebilderung des Cave'schen Kosmos laviert.

Reinhard Kleist: Nick Cave: Mercy On Me. Carlsen Verlag, Hamburg 2017. 328 Seiten, 24,99 Euro.

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