Neueste deutsche Welle:Abmarsch!

Wird viel bleiben vom jungen Pop deutscher Sprache? Nein, er hat es sich zu gemütlich gemacht.

Dirk Peitz

Ich bin jetzt da, wo ich mich haben will Und das ist immer Delmenhorst Erst wenn alles scheißegal ist Macht das Leben wieder Spaß. (Element of Crime, "Delmenhorst", 2005)

Tocotronic, Website

Zeichnung auf der Website der Band Tocotronic

(Foto: Foto: www.tocotronic.de)

Der hat alles hinter sich. Also: wirklich alles hinter sich gelassen. Er ist anscheinend angekommen, im schönen Nichts, wo die Zeit so vor sich hin vergeht, aber immer eine gute Liedzeile produziert. Eine wie die hier: "Sag Bescheid, wenn du mich liebst!" Die wiederum deshalb gleich noch mal besser wirkt, weil es in der Strophe davor um so allerweltsnahe Dinge wie "Getränke Hoffmann" geht.

Dieser Mittvierziger also sitzt da ganz entspannt, redet mit diesem beiläufigen hanseatischen Leck-mich-Akzent, den er sich in bald 25 Jahren Berlin bewahrt hat, und lacht sich ansonsten gerne scheckig. Es ist Sommer 2005, draußen regnet es, drinnen im alten "Café Einstein Kurfürstenstraße" im tiefsten Westberlin aber: alles bester Laune, alles weit weg. Denn: "Wer zuerst von weinenden Wolken spricht, der verliert."

Sven Regener, Bestsellerautor und Popmusikant

Das singt der Mann auf dem aktuellen Album seiner Band, das da, im Sommer vergangenen Jahres, noch gar nicht erschienen ist. Es wird im Oktober dann gleich in die Top Ten einsteigen und sich dort lange halten, die Platte zur Herbstzeitstimmung, von einer Gruppe, die sich zwanzig Jahre lang fast immer rausgehalten hat aus allem, und vielleicht gerade deshalb immer weiter mittenrein geriet.

"Wenn, dann hat sich die Zeit auf uns zubewegt, und nicht umgekehrt." Sagte damals im Café Sven Regener. Das ist der Mann von Element of Crime, der Mann mit den zwei Romanbestsellern - "Herr Lehmann" und "Neue Vahr Süd" - , die von anderen Zeiten handeln, der alten Bundesrepublik, den achtziger Jahren, die aber nicht in dieser ganzen schrecklichen Erinnerungskultur versackten, zu der sich die deutsche Popliteratur um die Jahrtausendwende entwickelte: Nicht mehr ganz junge Autoren erzählten von ihrer Provinzjugend in den achtziger Jahren, die zum Schluss immer in Berlin endete, Gottchen ja, auch nicht so sehr interessant, auf Dauer betrachtet.

Literatur ohne Schulterpolster

Also eigentlich genau wie "Neue Vahr Süd" und "Herr Lehmann"? Nein. Die beiden Bücher unterschieden sich nicht nur darin, dass in ihnen überhaupt keine Musik vorkam, keine peinlichen Lieblingslieder, keine Schämfrisuren, keine Schulterpolster. Sie hätten überall und irgendwann spielen können, diese Romane, weil es in ihnen wesentlich ja nur um eines ging: Einer guckt der Zeit beim Vergehen, der großen und seiner eigenen kleinen Geschichte beim Passieren zu. Das war mehr als eine flüchtige Zeichenschau aus den Achtzigern.

Nur in diesem Punkt sind Regeners Liedtexte auch mit seiner Prosa vergleichbar. Aber interessanterweise verhält sich "Mittelpunkt der Welt", das aktuelle Album von Element of Crime, zur neueren deutschen Popmusik wie es "Herr Lehmann" bei seinem Erscheinen 2001 zur neueren deutschen Popliteratur tat: Es wirkt so, als habe ein Sabotageakt von außen die überhitzten Maschinen eines ziellos vor sich hin tuckernden Unterhaltungsdampfers lahmgelegt.

Der fährt zwar auch ohne Antrieb noch eine Weile weiter. Aber richtig flott bekommt den Diesel keiner mehr. Begonnen hatte die neuere deutsche Popliteratur circa 1995 und damit die Entdeckung einer jungen Leserschaft, die nach Selbstwiedererkennung in Buchform verlangte, ohne dieses Bedürfnis an sich vorher wirklich bemerkt zu haben. Es gab einfach nichts Zeitgenössisches, worin es sich hätte spiegeln können.

Abmarsch!

Die neuere deutsche Popmusik hingegen existierte mit der Ausrufung der so genannten Hamburger Schule bereits seit Anfang der neunziger Jahre. Doch die Projektionsfläche, die Bands wie Blumfeld, Tocotronic und Die Sterne ihrem Publikum zur Bestätigung ihres Lebensgefühls boten, war einfach nicht groß genug. Sie beschränkte sich weitgehend auf das studentische Milieu der mehr oder weniger politisierten Stadtjugend, die für zehn-, zwanzig-, bestenfalls für fünfzigtausend verkaufte Alben gut war.

Neueste deutsche Welle: Element Of Crime-Sänger Sven Regener

Element Of Crime-Sänger Sven Regener

(Foto: Foto: DDP)

Es muss etwas passieren

In Zeiten, als es noch keine CD-Brenner und Download-Plattformen gab, war das so gut wie nichts. Und das waren alles Gitarrenbands, die in der großen fortschrittsvernarrten Epoche des Techno fortschrittsfeindlich mit den heillos überkommenen ästhetischen Mitteln des Punkrock arbeiteten.

Es mussten also ein paar Dinge passieren, bis es zum Deutschpop-Hype kommen konnte.

Erstens: Techno musste als Massenphänomen sterben. Das tat er freundlicherweise, er wurde von seiner eigenen imperialen Überdehnung dahingerafft.

Zweitens: Rock musste als Form, die klassische Bandbesetzung als deren Inszenierung rehabilitiert werden. Passierte beides dank der Debütalben der Strokes und der White Stripes im Jahr 2001, später derjenigen von Franz Ferdinand und einer Kette weiterer Debütanten-Rockplatten, die bis heute nicht abgerissen ist und die von Bloc Party über Maximo Park bis zu den Arctic Monkeys reicht.

Drittens: Im Zuge des um die Jahrtausendwende neben dem Rock-Revival ebenfalls grassierenden Achtziger-Jahre-Revivals musste jemand auf die Idee kommen, auch das allerletzte erfolgreiche Modell für deutschsprachige Popmusik - die Neue Deutsche Welle (NDW) der frühen achtziger Jahre - in die Gegenwart zu überführen.

Wir sind Helden und all ihre Nachfolger

So geschah es, Mia wurden als Phänomen 2002 geboren, Wir sind Helden 2003. Mia und ihre Sängerin "Mieze" jedoch waren dem ganz großen Publikum deutlich zu verquietscht, das Berliner Getue etwas zu doof.

Wir sind Helden hingegen vereinten als erste deutsche Popband seit langem alle nötigen Kompetenzen: Ihr erster und munterer Hit "Guten Tag (ich will mein Leben zurück)" war reiner NDW, ihr zweiter Hit "Denkmal" eine Rockballade, ihr Debütalbum "Die Reklamation" ein Sensationserfolg - und ihre Sängerin Judith Holofernes ein perfektes role model für alle Mädchen mit Neigung zum gleichzeitig Süß-, Intelligent- und Gebildetsein und einer pathologischen Vorliebe für Hippie-Esoterik.Der ganze Irrsinn, o ja, er konnte also losgehen.

Die übliche Spin-off-Strategie der Plattenindustrie brachte Juli und Silbermond hervor, Jungsbands mit Mädchen am Mikrofon genau wie Wir Sind Helden. Manchmal wurden die Jungs gleich wegrationalisiert, dabei kam dann Annett Louisan raus. Parallel dazu wurde eine schon deshalb unvermeidliche Skandalchronik fortgeführt, weil Deutsch-Singen fast zwangsläufig irgendwann die Nachfrage nach dem Deutsch-Sein anheizt.

Neuer deutscher Pop-Patriotismus

Mia-Sängerin "Mieze" hüllte sich in Schwarz-Rot-Gold, ihre Band bekam daraufhin häufiger Konzertbesuch von (allerdings sowieso immer) schlecht gelaunten Antifaschisten. Der Wolfsheim-Sänger Heppner, der schon mit Joachim Witt assoziativ "Die Flut" beraunt hatte, sang zu Paul van Dyks Trance-Klängen die Untergangs- und Wiederaufbau-Ode "Wir sind wir (Ein Deutschlandlied)". Das Hip-Hop-Label Aggro Berlin erfand die "Neue Deutsche Härte", die interessanterweise häufig von Rappern mit Migrantenhintergrund hart gemacht wurde. Die üblichen CD-Zusammenstellungen vieler Musiktitel standen plötzlich unter Titeln wie "Neue Heimat" und "Generation Deutsch" in den Läden.

Das alles und noch viel mehr, nämlich unter anderem die Tatsache, dass es die Forderung nach einer Radioquote für deutschsprachige Musik bis in den Bundestag brachte, führte schließlich zu einem schon untergegangen geglaubten Reflex der alten Poplinken gemeinsam mit der neuen Politlinken: "I Can't Relax In Deutschland" hieß eine Compilation und Diskussionsreihe, die sich gegen vermeintliche oder tatsächliche Renationalisierungstendenzen in der deutschen Popkultur wandte.

Bei den Podiumsdiskussionen allerdings beschränkten sich die Teilnehmer aufs neo-adornitische Totschlagargumentieren der Kulturindustrie-als-solcher und auf den aus K-Gruppen-Zeiten übernommenen Wettbewerb, wer für sich die radikalste Systemkritik und also das beste Linkssein in Anspruch nehmen könne. Das war im Herbst 2005. Da wurde die Debatte dann auch gleich schon von der um die "Neue Bürgerlichkeit" respektive "Neue Spießigkeit" verdrängt. Beim Deutschpop ist seither Ruhe im Karton. Das Thema ist tot, im Altpapier gelandet.

Aber nur an der Deutsch-Sein-Front ist Ruhe. Deutsch gesungen wird noch hysterischer als zuvor, nur merkt man es nicht mehr so. Oder es tut einfach nicht mehr weh. Man gewöhnt sich an alles.

Abmarsch!

Tomte, Label

Die Deutschpop-Band Tomte macht "sympathische Nachmacher-Musik"

(Foto: Foto: Ingo Pertramer)

Die Veröffentlichungsstrategie der Plattenfirmen in Bezug auf deutschsprachige Popmusik jedenfalls orientiert sich mittlerweile an der Geschwindigkeit, mit der sie junge britische Gitarrenbands durchs Hype-Dorf jagen. Dummerweise gebricht es jungen deutschen Bands aber meist am Nötigsten: Sexappeal, Selbstüberschätzung, Inspiration. Außer sie heißen Tokio Hotel und können nichts dafür.

Aber Hund am Strand, Photonensurfer, Schrottgrenze und wie die alle heißen, sie werden vom Publikum erst mal schief angeguckt und medial großräumig am Hype-Dorf vorbeigeleitet: Der Hype ist wieder das Revier der britischen Pendants, da haben deutschsprachige Newcomer - anders als vor zwei, drei Jahren ihre Vorgänger - nichts mehr verloren.

Von Spatzen, Tauben, Kettcar und Tocotronic

Was jetzt noch geht, ist wahre Sturheit. Und jahrelanges Warten. Und manchmal auch schlichtes Lobbying. Tomte ist so ein Beispiel, wie es vorher bereits Kettcar aus demselben Plattenfirmenhause "Grand Hotel Van Cleef" war. Eigentlich sind Tomte genau wie Kettcar zunächst mal zu alt und zu lange dabei, um nun plötzlich erfolgreich zu werden.

Und sie machen auf ihrer neuen Platte "Buchstaben über der Stadt" genau wie Kettcar auf "Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen" absolut nichts anders als auf den Platten davor. Das heißt im Fall von Tomte, dass sie halbtraurig nach Tocotronic klingen, nur ohne komplizierte Metaphern, dafür aber mit holprigen Versmaßüberschreitungen.

Vor zwei, drei Jahren nannte man das "Befindlichkeits-Indierock" und fand es bestenfalls sympathisch. Jetzt aber jubeln alle, und Tomte verkaufen plötzlich viele Platten, wie zuvor Kettcar. Es ist der Element-of-Crime-Effekt, den Sven Regener beschreibt: Nicht die Bands haben sich der Zeit, sondern die Zeit hat sich den Bands angenähert, die Befindlichkeit vormals unbedeutender Popgruppen ist plötzlich deckungsgleich mit der eines großen Publikums.

Keine große Euphorie, keine sexy Jugendlichkeit

Dieses Publikum erwartet, anders als bei den jungen britischen Hype-Bands, keine große Pop-Euphorie, keine großen Pop-Entwürfe, keine sexy Jugendlichkeit, keine guten Klamotten. Vor allem aber: keine Provokationen und keine Distanz. Das Publikum will sich - das ist die wahre, mit Tomte und Kettcar wieder ins Recht gesetzte Funktion deutschsprachiger Popmusik in diesen Monaten - ausschließlich selbst spiegeln. Es will sich verstehen in seinen eigenen Unzulänglichkeiten. Es will getröstet werden. Es will es gemütlich haben. Versmaße sind doch irgendwie auch egal.

Der Unterschied zu Element of Crime ist: Bands wie Tomte und Kettcar haben, wie tausend andere nette Gruppen auch, kein poetisches Programm, sie haben nicht mal einen eigenen musikalischen Stil. Thees Uhlmann, der Tomte-Sänger, mag der fanatischste Pop-Fan sein, den man sich vorstellen kann. Aber er ist eben nur Fan.

Er macht sympathische Nachmacher-Musik. Dementsprechend die Sprache in "Ich sang die ganze Zeit von dir", der groß gemeinten (und mit der Silbendehnungstechnik von Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow gesungenen) Anfangshymne der neuen Platte: "Auf einem Platz in meinem Herzen / Steht dein Name an der Wand."

Bei Sven Regener - da sind wir wieder am Anfang dieser Geschichte - klingt die gleiche Angelegenheit eben mit vertauschten Vorzeichen schlicht, aber sehr ergreifend so: "Sag Bescheid, wenn du mich liebst!" Warum viele Worte?

Räuber und Gedärm

Die richtigen Worte finden und dazu die richtigen Töne - das gelingt endlich auch den Sternen wieder und ihrem Frontmann Frank Spilker, die man fast schon abgeschrieben hatte. "Es könnte qualmen oder so", sind Spilkers erste Worte, die auf dem neuen Album "Räuber und Gedärm" zu hören sind, das in zwei Wochen erscheint. Es ist die Überraschung der Saison.

Damit hätte man jetzt nicht mehr gerechnet: Dass die ganz alte Hamburger Schule noch einmal triumphal zurückkehrt: mit einer präzisen Beschreibung der Wirklichkeit, der Wirklichkeit einer Band auf dem Weg nach Jenseits von Gut und Böse, und der Wirklichkeit eines Landes nahe am Abgrund. Es stimmt wirklich: die Alten, und zwar die, von denen man es am wenigsten erwartet hätte, die echt nicht mehr für möglich Gehaltenen - sie übernehmen am Ende den Laden.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: