Neues von Pankraj Mishra:Die Nöte des Wachstums

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"Aus den Ruinen des Empires" hieß sein Weltbestseller über das Verhältnis von Ost und West. In seinem neuen Buch erzählt Mishra von Begegnungen in Asien, zwischen Demokratie und Kapitalismus.

Von Stefan Weidner

Rezensionen zu rezensieren ist mit das Unangenehmste, was einem Rezensenten passieren kann. Tatsächlich besteht rund die Hälfte des neuen Buchs von Pankaj Mishra, der 2014 auf der Leipziger Buchmesse den "Preis für europäische Verständigung" erhalten hat, aus Besprechungen und Literatenporträts. Will man wissen, wo die hier versammelten Texte erschienen sind, muss man einen verräterischen Übersetzungsfehler korrigieren und die in der Danksagung genannten Namen der Redakteure, welche die Texte in Auftrag gaben und die hier auf Deutsch verschleiernd "Herausgeber" heißen, bei Google eingeben. Dann erfahren wir, dass die hier versammelten Aufsätze im Lauf der vergangenen zehn Jahre in der New York Review of Books, der London Review of Books, dem Guardian und dem Reisemagazin Travel & Leisure erschienen sind. Es ist ärgerlich und unnötig, dass dies unterschlagen wird.

Denn wir haben es trotzdem oder gerade deswegen mit einem äußerst lesenswerten und kurzweiligen Buch zu tun. Zum einen, weil im englischsprachigen Raum solche weitausgreifenden, eher an Reportagen erinnernde Buchbesprechungen noch geschrieben werden können. Zum anderen, weil der Autor dieses plauderleichte Genre perfekt beherrscht und uns gar nicht recht merken lässt, dass das Kapitel über Mao und die Maoisten im Grunde nur eine Sammelbesprechung über neue Publikationen zu Mao ist.

Mishra ist viel in Ostasien gereist, das kommt seinem Buch zugute

Kommt hinzu, dass Mishra sich nicht nur lesend mit China beschäftigt hat, sondern das Land häufig bereist hat und mit vielen Intellektuellen zusammengetroffen ist. So lernen wir nebenbei, wie die Pekinger Stadtrandwohnung des oppositionellen chinesisch-tibetischen Autorenpaars Woeser und Wang Lixiong aussieht oder wie zwei Recken der chinesischen Avantgarde der Neunzigerjahre miteinander umgehen, wenn sie sich zwanzig Jahre später mit Mishra in einem volkstümlichen Restaurant in Peking treffen. Tatsächlich bekommt man dabei das Gefühl, ein wenig hinter die Kulissen des heutigen Asien zu schauen.

Der 1969 in Jhansi in Nordindien geborene, in London lebende Pankaj Mishra ist mit dem Buch: "Aus den Ruinen des Empires" bekannt geworden. Er hat für diese Geschichte der politischen und intellektuellen Antworten der nicht-westlichen Welt auf die im Lauf des 19. Jahrhunderts überhand nehmende Dominanz des Westens 2014 den Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung erhalten. Während die folgenden Modernisierungsbestrebungen mancherorts eine Erfolgsgeschichte waren, etwa in Japan oder der Türkei, brachte sie anderswo Bürgerkriege, Diktaturen und Fanatismus hervor. Der Nahe Osten leidet bis heute darunter, Asien hingegen scheint in den vergangenen Jahrzehnten aufgeholt zu haben, wie Mishra in seinem neuen Buch zeigen will.

Pankaj Mishra: Begegnungen mit China und seinen Nachbarn. Aus dem Englischen von Michael Bischoff. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2015. 382 Seiten, 24,99 Euro. E-Book 21,99 Euro. (Foto: verlag)

Das Leitmotiv von Mishras Erkundungen des östlichen Asiens ist die Frage nach einem möglichen - und nötigen - dritten Weg, nämlich der Vereinbarkeit von Wirtschaftswachstum und Gerechtigkeit. Hatte man mit Bezug auf China lange angenommen, dass die marktwirtschaftliche Öffnung früher oder später auch zu gesellschaftlichen Freiheiten und größerem Wohlstand für alle führt, scheint sich dies zunehmend als Illusion herauszustellen. Der neoliberale Kapitalismus versteht sich vorzüglich mit autoritären Regimen, wie Japan bereits vor dem Zweiten Weltkrieg bewiesen hatte.

Dennoch gibt Mishra die Hoffnung auf Alternativen zwischen Neoliberalismus und Diktatur nicht auf und findet vielversprechende Ansätze dazu ausgerechnet in multiethnischen Gesellschaften mit muslimischer Mehrheit, in Malaysia und Indonesien. Während die lange Krise der indonesischen Demokratie mit dem Amtsantritt des volksnahen, an echten Reformen interessierten Joko Widodo im Oktober 2014 beendet zu sein scheint, muss sich in Malaysia die Demokratie erst noch an der Rassenfrage abarbeiten: Der bis 2003 autoritär regierende Mahathir Mohamad hatte die rassische Abwertung der Chinesen und Inder (zusammen etwa die Hälfte der Bevölkerung) gegenüber den Malaysiern zur Staatsraison erklärt. Mishra zitiert aus einem malaysischen Theaterstück: "Die Chinesen machen die Arbeit, die Malaysier rechnen sich die Verdienste zu, und den Indern schiebt man die Schuld zu."

Hier geht es um eine Alternative zu Neoliberalismus und Diktatur

Zwar wirken Mishras Kenntnisse Indochinas (eine von ihm auch heute noch als sinnfällig erachtete Bezeichnung der Länder zwischen Indien und China) nicht so intim wie die Schilderungen Chinas und Tibets, eignen sich dafür aber als Einführung in diese Länder noch besser als die Insiderschilderungen der Debatten chinesischer Intellektueller. Dies gilt auch für den stärksten und längsten Text dieses Bandes, den über Japan. Er schreibt die Geschichte Japans, die bereits in "Auf den Ruinen des Empires" die Hauptrolle spielte, vom Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart fort und wartet mit einem überraschenden, sich nicht zuletzt Mishras ost-östlichem Blick verdankenden Fazit auf: "Japan zog mit dem Westen gleich und überholte ihn sogar, um schließlich festzustellen, dass es nun keinen Ort mehr gab, an den es gelangen wollte, keinen Kurs, den es einschlagen konnte." Was aus dieser Erkenntnis folgt, erinnert verflixt an die Situation in Mitteleuropa heute: "Japan scheint nun die Vorhut in einer neuen Schrumpfungsbewegung übernommen zu haben", zitiert Mishra den japanischen Denker Kato Norihiro. Es gehe darum, "über das Wachstum hinauszuwachsen".

Vor diesem Hintergrund würden wir von Pankaj Mishra, dem bekennenden Buddhisten und Vegetarier mit analytisch-literarischem Blick und großem Gerechtigkeitssinn, zu gern ein ähnliches Buch über "Europa und seine Nachbarn" lesen - selbst auf die Gefahr hin, dann noch einmal Rezensionen rezensieren zu müssen.

© SZ vom 19.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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