Neues vom Lido:Rezeption mit Jetlag

Mit Spielbergs "Terminal" werden die 61.Filmfestspiele in Venedig eröffnet.

FRITZ GÖTTLER

Eine Vorstellung von Fülle ist es, die sich mit einem großen Filmfestival immer noch verknüpft, selbst in den Jahren, da das Kino vor allem als Blockbuster-Walze die Schlagzeilen dominiert.

Neues vom Lido: "Ich weiß nicht wirklich, wer mich gesandt hat, meine Stimme zu erheben: Mögen die Lichter im land of plenty eines Tages über der Wahrheit leuchten."

"Ich weiß nicht wirklich, wer mich gesandt hat, meine Stimme zu erheben: Mögen die Lichter im land of plenty eines Tages über der Wahrheit leuchten."

(Foto: Foto: dreamworks)

Die Erwartung eines Programms, das es allen recht macht, das allen gerecht wird - das Augen und Ohren findet für die Glücklichen und die Elenden, die Reichen und die Armen, die Intellektuellen und die Actionsüchtigen ... Festivals mit Sendungsbewusstsein, im Sinne von Leonard Cohen: "Ich weiß nicht wirklich, wer mich gesandt hat, meine Stimme zu erheben: Mögen die Lichter im land of plenty eines Tages über der Wahrheit leuchten."

Kino als das land of plenty ... Genau das verspricht schon der Film, mit dem das 61.Filmfestival in Venedig eröffnet wird, "The Terminal" von Steven Spielberg.

Ein Kinostück in der klassischen Tradition, das andere Hollywood, nicht laut und dröhnend, wie es den Kinosommer bestimmte, sondern spielerisch und versonnen, bis zur Selbstvergessenheit.

In der Figur Spielberg manifestiert sich die Studio-Schizophrenie des heutigen Hollywood, immer wieder bekundet er, er sei erwachsen geworden mit "Schindlers Liste" und lässt sich dann doch wieder von den Mythen und Märchen verführen.

"The Terminal" zeigt Tom Hanks als Viktor Novarski, der als naiver Fremdling bei der Ankunft am Flughafen in New York gebremst wird - sein Land Krakosia hat die Unabhängigkeit verloren und der Bürger Viktor hat aufgehört zu existieren.

Im Niemandsland JFK baut er sich eine neue Existenz auf - das ist eine etwas aufdringliche Parabel in den Zeiten von Fremdenfurcht und Wirtschaftskrise. Es ist, als wäre Capra zurück in der Stadt, der 1936 in Venedig für "Mr. Deeds geht in die Stadt" mit einer lobenden Erwähnung bedacht wurde.

Das Festival startet also mit einer Zeitverschiebung. "The Terminal" ist bei den Amerikanern schon durch, war kein Renner bei den Kritikern, beim Publikum - ein rezeptiver Jetlag.

Marco Müller, der neue Festivalleiter, hätte den Film durchaus gern im Wettbewerb gehabt, nun vertreten Mira Nair mit ihrer Thackeray-Verfilmung "Vanity Fair" und Jonathan Glazer mit seinem Reinkarnations-Mystery "Birth" - Nicole Kidman und ihre eigenartige Liebe zu einem zehnjährigen Buben - die Hollywoodproduktion. Aber auch Todd Solondz ist dabei, der seine Rolle als US-enfant-terrible weiterspielt, mit "Palindromes", der Geschichte eines 12-jährigen Mädchens, das Mutter zu werden wünscht.

Die Vorgabe ist eindeutig. Das Festival, das das älteste der Welt ist, soll wieder die Nummer eins werden in Europa - vor Cannes. Das bedeutet erst mal Glamour, US-Connections, Hollywoodisierung. Bedeutet Tom Hanks und Nicole Kidman, und Scarlett Johansson in der Jury. Wir wollen die Infrastruktur verbessern, haben Marco Müller und Biennale-Präsident Davide Croff erklärt, als sie vor einigen Wochen ihr Konzept vorstellten. 5 bis 6 Millionen Euro stehen zur Verfügung, und das mit der Infrastruktur ist real gemeint: Man hat zehn Architekten nominiert, die für den neuen Festivalpalazzo Pläne einreichen dürfen.

Ein zwanzigjähriger blonder Jungstar als Jurymitglied, das ist nicht unbedingt alltäglich. In ersten Interviews hat Scarlett Johansson ihre Vorstellungen von ihrer Arbeit in der Festivalstadt skizziert - eine Mischung aus Sinnlichkeit und Intellekt, inspiriert von jugendlichen Kinoträumen - "Meet Me in St. Louis" - und der Musik von Piaf und Duke Ellington.

John Boorman wird ihr als Jurypräsident zur Seite stehen, dazu Helen Mirren - sie zeigte Venedig-Präsenz in Paul Schraders großartigem "Der Trost von Fremden"" -, Wolfgang Becker, Dusan Makavejev, Spike Lee und andere.

Müller setzt fort, was Moritz de Hadeln in seinen zwei Jahren als Venedig-Chef angeleiert hat. Er verbreitert den roten Teppich, ohne das Kino vom Rande darüber zu vernachlässigen - dem sowieso seine große Liebe gilt und das er viele Jahre mit einer eigenen Produktionsfirma aktiv gefördert hat, durch Filme von Aleksander Sokurov, Zhang Yuan, Samira Makhmalbaf, Danis Tanovic. Hou Hsiao-Hsien vertritt im Wettbewerb diese Linie, mit "Kohi jikou/Café Lumière", einer Hommage an den japanischen Filmemacher Yasujiro Ozu, Hayao Miyazaki mit seinem neuen Zeichenfilm-Meisterstück "Hauru no ugoku shiro/Howl's Moving Castle", Mike Leigh mit "Vera Drake". Außer Konkurrenz gibt es Neues von Claude Chabrol, Jonathan Demme, Marc Forster, Jurymitglied Spike Lee, Michael Mann, Kira Muratova oder Manoel de Oliveira.

In der neuen Reihe Horizons läuft "Agnes und seine Brüder" von Oskar Roehler, als Sonderveranstaltung werden "Heimat 3" von Edgar Reitz gezeigt und "The Hamburg Cell" von Antonia Bird, über die 9/11-Todespiloten. Hollywood ist in diesem Jahr - neben Tom Cruise und Nicole Kidman, die anders als vor fünf Jahren, bei "Eyes Wide Shut", diesmal getrennt auftreten - vor allem DreamWorks.

Die Firma stellt den Eröffnungsfilm und präsentiert das neue Pixar-Zeichenfilm-Wunderding "Shark Tale". Und bringt dafür die Italoamerikaner Martin Scorsese und Robert De Niro an den Lido, die den Haien der Großstadt ihre Stimme leihen.

Man wird als Festivalchef - in welcher Stadt auch immer - fast automatisch mit den gleichen Vorwürfen konfrontiert. Marco Müller gibt sich in dieser Hinsicht als einer der letzten Independents - was die gewohnten Querelen der Berlusconi-Bürokratie angeht, die ihn zwangen, seine Produzententätigkeit aufzugeben, aber auch seine Verpflichtung der Filmgeschichte gegenüber.

Deshalb ist nach Cannes auch Tarantino wieder mit von der Partie, er stellt eine Reihe mit italienischen Kings of the Bs vor - die Würdigung des nationalen Erbes, durch Vermittlung eines Fans aus Amerika. Umgekehrt hat Wenders in "Land of Plenty" versucht, amerikanische Traditionen zu beleben - der Geist von James Agee und Walker Evans scheint in ihn gefahren zu sein, es ist eine Elegie auf amerikanische Tugenden, ein Triumph der Naivität, der Menschlichkeit, des Mitgefühls.

Die Apotheose für den Festivalchef Müller müsste freilich - selbst wenn der Film die Erwartungen nicht restlos erfüllen kann - die Vorführung von "Eros" sein, dem lang ersehnten gemeinsamen Werk von Wong Kar-Wai, Steven Soderbergh und Michelangelo Antonioni.

Das ist die Vereinigung des Jungen und des Alten, der Nachkriegszeit und der Moderne in einem Film, eine Feier des Kinos, als der Ort, wo die Träume und ihr Wirklichwerden immer wieder verhandelt werden. Gerechtigkeit für alle: "May the lights in the Land of Plenty shine on the truth some day."

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