Neues Buch von David Foster Wallace:Gaga im Finanzamt

Bevor er sich erhängte, kämpfte Kultautor David Foster Wallace an einem Konzept für einen neuen Roman, der nun zu lesen ist: "The Pale King" bietet unfassbar Brillantes zum Thema Langeweile.

Jörg Häntzschel

Bevor David Foster Wallace sich am 12. September 2008 in seinem Haus in Claremont, Kalifornien erhängte, nachdem er das Antidepressivum Nardil abgesetzt hatte, ordnete er auf seinem Schreibtisch das unvollendete Manuskript, an dem er jahrelang unter immer peinigenderen Zweifeln gearbeitet hatte. Seine Frau, seine Agentin und sein Lektor Michael Pietsch vom Verlag "Little, Brown and Company" fanden in seinem Büro weitere Fragmente:

Neues Buch von David Foster Wallace: Mit dem postmodernen Roman "Unendlicher Spaß" gelang Wallace 1996 der Durchbruch als Romanautor. Drei Jahre nach seinem Freitod erscheint der nachgelassenene Roman "The Pale King', in dem Wallace den dunklen Kontinent der Langeweile erforscht.

Mit dem postmodernen Roman "Unendlicher Spaß" gelang Wallace 1996 der Durchbruch als Romanautor. Drei Jahre nach seinem Freitod erscheint der nachgelassenene Roman "The Pale King', in dem Wallace den dunklen Kontinent der Langeweile erforscht.

(Foto: AP)

Dateien auf Wallace' Festplatte, ganze Kapitel in seinen Notizbüchern. Auf Seiten, mit denen er zufrieden war, klebten Smiley-Aufkleber wie in den Diktatheften von Grundschülern. Pietsch schleppte das Manuskript nach New York und begann, im Auftrag von Green mit der über zweijährigen Arbeit, in dem Material, das weder Ende noch erkennbare Ordnung hatte, "die bestmögliche Version" des Romans zu finden.

Pietsch macht sich keine Illusionen darüber, dass "dieser Roman ein bei weitem anderer geworden wäre", hätte Wallace ihn vollenden können. Doch angesichts der Tiefe und der Traurigkeit von "The Pale King", der in den Vereinigten Staaten in dieser Woche erscheint, verlieren sich eventuelle philologische Einwände schnell. Der Roman ist mehr als ein weiterer, großartiger Wallace-Text. Er ist das Produkt einer selbstkritischen Revision und der Pfad, auf dem Wallace sich aus einer tiefen Krise herauszukämpfen versuchte. Der Suizid wiederum lädt das Buch unweigerlich mit dem Pathos des Vermächtnisses auf. Erstaunlich ist, wie selbstverständlich der Roman dieses Gewicht trägt.

"The Pale King" hat weder das magnesiumhelle Gleißen noch das amoklaufende Genie von "Infinite Jest", dem Großroman, mit dem Wallace 1996 die größte literarische Sensation seit Pynchons und DeLillos Romanen gelungen war. Das ist nicht unbedingt von Nachteil: Wallace hat verstanden, dass shock and awe als literarische Strategie keine Zukunft hat, und dass nicht jeder Roman, wie "Infinite Jest", 588 Fußnoten braucht.

Am Anfang der Arbeit an "The Pale King" stand Wallaces Erschrecken über die Aggressivität seines Virtuosentums. Eine neue humanistische Sorge wurde zum beherrschenden Thema seiner letzten Lebensjahre. Ein guter Autor solle "den Lesern helfen, weniger allein zu sein", schrieb er. Er wolle "moralisch leidenschaftliche und leidenschaftlich moralische" Literatur schreiben.

Doch der schüchternere Auftritt von "The Pale King" ist auch seinem Thema geschuldet. "Infinite Jest" beschrieb eine nahe Zukunft, in der wir uns als Opfer unserer Unterhaltungs- und Betäubungssucht buchstäblich zu Tode amüsieren. Der Roman selbst wurde zum Abbild davon: mit Kaskaden der Verzettelung, mit Spiegelkabinetten, deren erheiternde Brechungen in klaustrophobischem Entsetzen mündeten.

"The Pale King" widmet sich der anderen Seite derselben Medaille: der Langeweile, deren unerträglich lautes Schweigen wir mit Dauerentertainment zu übertönen suchen. Wallace geht es nicht um ihren Weltschmerzaspekt, diesen Standardtopos der Moderne von Flauberts "Éducation Sentimentale" bis zu den Büchern von Bret Easton Ellis. Was ihn interessiert, ist ihre mörderische Mechanik, und was diejenigen tun, die der Langeweile ausgeliefert sind.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, was sich hinter der Langeweile versteckt.

Das verschüttete Glück

Welches Setting könnte für einen solchen Roman besser geeignet sein als das Regionale Prüfzentrum der amerikanischen Steuerbehörde IRS in Peoria, Illinois, wo die Tage so ablaufen: "Chris Fogle blättert um. Howard Cardwell blättert um. Ken Wax blättert um. Matt Redgate blättert um. Der ,lässige' Bruce Channing heftet ein Formular an eine Akte. Ann Williams blättert um. Anand Singh blättert versehentlich zwei Seiten gleichzeitig um und blättert eine zurück, was ein etwas unterschiedliches Geräusch macht. David Cusk blättert um."

Doch bevor wir an diesem leeren Nullpunkt in der Mitte des Romans angelangt sind, hören wir die Vorgeschichten der "verlorenen Seelen", ihre Biographien der äußeren Stagnation und des inneren Mäanderns. Da ist David Cusk, der seinen emotionalen Zustand obsessiv überwacht, um die Schwitzattacken vorherzusehen, die ihn regelmäßig überkommen; Chris Fogle, ein verquatschter Kiffer, dessen Lieblingszustand das eigene "Verdoppeln" mit ADD-Medikamenten ist; und Claude Sylvenshine, der mit seiner paranormalen "Random-Fact Intuition" nutzlose Informationen über seine Mitmenschen erspürt. Es sind lauter Wahrnehmungsneurotiker, die an ihrem inneren Datenverkehr irre zu werden drohen, bis sie die Buchhaltung entdecken.

Für Fogle etwa begann es, als er beim Betrachten einer Soap Opera vor jeder Werbepause von einer ernsten Stimme erinnert wird: "You're watching ,As the World Turns'". Er ist überwältigt von der simplen Wahrheit dieses Satzes und wie wachgerüttelt von seiner zweiten Bedeutung: Du sitzt hier und glotzt, und die Welt dreht sich! Wenig später tritt er in den "Dienst" ein.

Wie arme Sünder

Kein Zufall, dass es ein charismatischer Jesuit ist, der Fogle die Augen öffnet. Wallaces Figuren finden zu ihrer Behördenfron wie arme Sünder in Erbauungsgeschichten zum Glauben. Bei ihrer Ankunft in Peoria wird mit ihrer alten Sozialversicherungsnummer ihre bisherige Existenz gelöscht. Wie Mönche sitzen sie an den abgewetzten Schreibtischen. Und der nie abebbende Aktenstrom - "Form 2106-EZ", "Form 1040 Schedule D", "Form 3IR plus 12 (A)" - wird zu einer Prüfung, an deren Ende sie so etwas wie Glückseligkeit erwartet.

Wallace gelingt es, diese groteske Grundidee seines Romans ohne jede Spur von Ironie zu entwickeln. Doch dem postmodernen Erzählen ist er trotz seiner Zweifel treuer geblieben, als man nach den ersten Berichten von diesem Buch erwartet hatte.

"Autor hier. Also der wirkliche Autor, das lebende menschliche Wesen, das den Bleistift hält, nicht irgendeine abstrakte, narrative Personal...David Wallace, 40 Jahre alt, Sozialversicherungsnr. 975-04-2012", beginnt er das neunte Kapitel, überschrieben "Vorwort des Autors" und behauptet "Das alles ist wahr. Dieses Buch ist wirklich wahr." Es handele sich um eine "nicht-fiktionale Autobiographie, ergänzt um Elemente von rekonstruktivem Journalismus, Psychologie von Organisationen, elementaren Theorien des Gesellschafts- und Steuerwesens, & c.", in der er von den 13 Monaten erzähle, die er als Buchhalter in Peoria gearbeitet habe, nachdem er von seinem Elitecollege geflogen war, weil er seinen Kommilitonen ihre Hausarbeiten geschrieben habe.

Nicht nur ist dieser "wahre" Autor natürlich erfunden - wenn auch nicht der Teil von ihm, der davon träumte, ein "unsterblich großer Schriftsteller à la Gaddis oder Anderson, Balzac oder Perec" zu werden. Der fiktive David Wallace wird bei seiner Ankunft auch noch mit einem zweiten Mann desselben Namens aus der Steuerbehörde in Rome, New York verwechselt. Auch sonst schraubt Wallace mit dem Werkzeug der Postmoderne: Seine Kapitel sind Puzzleteile mit dutzenderlei Erzählstimmen, die der Leser trotz Pietschs Vorarbeit erst nach und nach zusammenfügen kann.

Funkelnde Sätze

Einige sind nur ein paar Zeilen lang, andere ziehen sich über 100 Seiten hin; mal hört der Leser die bewegende Lebensbeichte eines 20-Jährigen, mal wird er mit einer Debatte zur amerikanischen Verfassung gequält, die von Tocqueville via "Der Exorzist" bis zu Reagan dahinstolpert. Seine berüchtigten Fuß- und Endnoten konnte sich Wallace nicht ganz verkneifen. Und mit Gaga-Namen wie Dick Tate oder Errol Merril Lehrl verbeugt er sich vor Thomas Pynchon.

Während der Arbeit an "The Pale King" schrieb Wallace über seine "verbalen Gewohnheiten", sie hätten sich "von einer Entdeckung zu einer Technik zu einem Tic" entwickelt. Dennoch trommelt er auch hier seine funkelnden Sätze aus unfassbar brillanten Beschreibungen, Vulgärrülpsern und verquasten Echos der Fake-Rhetorik aus Werbung, Bürokratie und Medien zusammen.

Doch während er letztere in "Infinite Jest" noch feixend auf die ironische Spitze trieb, setzt er sie hier mit ernsteren Absichten ein: Als seien sie auf der Flucht vor sich selbst, lässt er seine Figuren die Technokratenlingo nachplappern, die täglich durch ihr Hirn rinnt. Sie sprechen von "intrafamiliären Spannungen", "max. capacity 24"-Bussen und nennen einen Vorgesetzten "Agenten-Moral-orientiert". Die Figur David Wallace, deren Lebensproblem seine groteske Akne ist, nennt diese "schwer/entstellend", als sei er sein eigener Arzt.

Hinter der Langeweile, jenseits der Kulissen, hinter denen wir uns vor uns selbst verstecken, wartet das verschüttete Glück der Aufmerksamkeit, des Bei-sich- und Im-Moment-Seins, "a second-by-second joy + gratitude at the gift of being alive, conscious. Wallace ruft es hier wohl umso leidenschaftlicher zum Ideal menschlicher Existenz aus, als er es selbst so selten erlebte.

DAVID FOSTER WALLACE: The Pale King. Little, Brown and Company, New York 2011. 548 Seiten, 27, 99 Dollar.

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