Neues Album von "The Libertines":Knall und weiter!

The Libertines

Früher schlugen sie sich die Köpfe ein, heute sitzen sie einträchtig nebeneinander: Pete Doherty (Mitte r. ) und Carl Barât (M.l.). Daneben: Gary Powell und John Hassall (r.).

(Foto: Universal Music)

Elf Jahre nach ihrer Auflösung klingen die "Libertines" um Pete Doherty berechenbarer. Aber das neue Album soll keine Therapiesitzung sein, sondern immer noch Rock'n'Roll.

Von Annett Scheffel

Elf Jahre ist es her - das Ende der großen Selbstzerstörungsshow dieser Band: The Libertines waren wohl die letzten verschwitzten, versifften Jungs mit Gitarre, denen man das Wütende und Exzessive, die "Leck mich am Arsch"-Attitüde wirklich abnahm. In einem verwackelten Youtube-Video kann man das heute noch sehen: In ihrer kleinen, rumpeligen Wohnung im Londoner Stadtteil Whitechapel spielen Pete Doherty und Carl Barât einen ihrer berüchtigten Guerilla-Gigs. Irgendwann kommt die Polizei, und die beiden ungleichen, aber in Idealismus und Zigarettenqualm verbundenen Freunde singen selig "Guns of Brixton", den großen Clash-Hit gegen Polizeigewalt.

Für die knapp zwei Jahre zwischen ihrem Debütalbum "Up the Bracket" (2002) und dem Nachfolger "The Libertines" (2004) war diese Band das Aufregendste, was der britischen Popmusik seit Oasis und Blur passiert war. Ein Jahr nach dem Debüt der New Yorker The Strokes brach mit ihnen, die sich heiser schwelgend auf The Kinks, The Smiths oder eben The Clash beriefen, das Postpunk-Revival wie ein Fieber in Großbritannien und dem Rest Europas aus.

Die Musik war alles andere als neu. Aber sie war jung, laut und dreckig. Und sie projizierte die gesamte Durchschlagskraft der vergangenen vier Jahrzehnte britischer Gitarrenmusik auf die Erlebniswelt der Millennium-Jugend.

Nach dem unvermeidlichen Ende dachten alle: Nie wieder. Vermutlich vor allem sie selbst

Man weiß heute natürlich, wie schnell das unvermeidliche Ende folgte: Schon Ende 2004 spielten sie, zerbrochen an Streitereien und Dohertys immer unberechenbareren Drogenexzessen, ihr letztes Konzert. Doherty, dieser Heroin-Junkie und geniale Songwriter, der zu dieser Zeit bereits eine halbe Million Pfund Suchtschulden angehäuft hatte, war da schon gar nicht mehr dabei. Knall und vorbei! Nie wieder, dachten alle. Wahrscheinlich vor allem sie selbst.

Und tatsächlich ist es ein kleines Wunder, dass morgen, nach so vielen Jahren Funkstille zwischen Doherty und Barât, ein neues Album der Libertines erscheint: "Anthems for Doomed Youth" (EMI), das dritte Album, mehr als ein Jahrzehnt nach der Trennung. Die alten Freunde, die diese Band als romantische Tagträumerei von einem besseren, ausgelasseneren England erdacht hatten, sie haben nach Dohertys längst überfälligem Drogenentzug in Thailand wieder zusammen Songs geschrieben.

Erstaunlich sind die neuen Stücke zunächst vor allem deshalb, weil sie in gewissem Sinne tatsächlich klingen, als hätte es die lange Pause nie gegeben. Zwar hat "Anthems for Doomed Youth" nicht mehr die Wucht ihres Debüts, erschienen in einer Zeit, als die britische Gitarrenmusik nach dem Ende der großen Britpop-Welle in Trümmern lag und man händeringend nach einer jungen, wilden Postpunk-Band suchte.

Ein letztes bisschen Punk-Dilettantismus

Aber es ist ein wunderbares Rockalbum geworden, eines mit unverkennbaren Libertines-Hymnen, die ihre Energie immer noch aus verschwenderisch hingeworfenen, eingängigen Melodien beziehen. Und wieder stehen die beiden Romantiker Doherty und Barât nur mit einem Fuß im 21. Jahrhundert, füllen ihre Texte mit literarischen Zitaten von alten Helden wie Graham Greene, George Orwell und Oliver Cromwell an. Auch eine gewisse Rotzigkeit liegt noch immer in den Songs - ein letztes bisschen vom kindlich-wilden Punk-Dilettantismus.

Man kann diese alten Versatzstücke besonders in torkelnd-tänzelnden Hymnen wie "Belly of the Beast" oder "Heart of the Matter" hören. Trotzdem hat man das Gefühl, dass die Singalong-Melodien und Gitarrenriffe und auch die Rhythmik und der stoisch-wippende Bass irgendwie fester im Sattel sitzen als auf den ersten Alben. Produziert hatte die Mick Jones, ehemals Clash-Gitarrist, und die Anarchie, die er im Studio zuließ - dieses typische Jekyll-und-Hyde-Chaos, das Doherty und Barât stets umgab -, hörte man den Songs damals an: als könne ihre Schönheit jederzeit ebenso zerfallen wie die heißblütig schwankende Freundschaft des Duos.

Dass die Songs auf "Anthems for Doomed Youth" jetzt viel weniger wackelig und ein wenig berechenbarer klingen, mag am neuen Produzenten Jake Gosling (One Direction, Ed Sheeran) liegen. Oder daran, dass man in den elf Jahren, die zwischen Anfang zwanzig und Mitte dreißig liegen, von ganz allein ein wenig näher in Richtung Körpermitte sinkt - ob man das nun Erwachsenwerden nennen will oder nicht.

Das Album soll, das hört man, keine Therapiesitzung sein. Sondern immer noch Rock'n'Roll

Bleibt die Frage, was eine Band, deren Essenz immer darin lag, das wunderbar rastlose Gefühl vom Jung- und Freisein, von Weltflucht und Rebellion in laute Songs zu gießen, 2015 über Popkultur zu erzählen hat? In einer Zeit also, in der Gitarrenmusik - auch in Großbritannien - in erster Linie als Teil einer Erinnerungskultur an gute, alte Teenager-Zeiten funktioniert, jährlich zelebriert auf den großen Festivals. Der direkte Draht zur jugendlichen Weltsicht, er ist auch bei den Libertines irgendwann abgerissen. Insofern muss man den Albumtitel - "Hymnen auf eine verlorene Jugend" - in doppeltem Sinn verstehen: Natürlich geht es hier um Vergangenheitsbewältigung; um das Gefühl, das die Erinnerungen an den Wahnsinn der alten Tage wachrufen. Genauso geht es aber um die Erleichterung, das alles einigermaßen unbeschadet überstanden zu haben.

Und weil man sich die Band immer auch als die schönste Hassliebe der jüngeren Rockgeschichte vorstellen musste, ist es auch ein großes Vergebungsalbum. Am schönsten in "Gunga Din": Doherty erzählt von Reue und Schmerz und der leidigen Suche nach einer Vene für den nächsten Schuss, bis sein alter Kumpel interveniert und ihm im großen Mitgröl-Refrain auf die Schulter klopft: "Oh, the road is long / If you stay strong / You're a better man than I am" - wenn du durchhältst und clean bleibst, bist du der Bessere von uns beiden.

Bevor sie sich aber vor lauter Rührseligkeit in den Armen liegen, krakeelt eine Stimme eine gelallte Beleidigung dazwischen: "What are you doing, you stupid fucking idiot?!" Das hier soll schließlich keine Therapiesitzung werden, sondern immer noch Rock'n'Roll sein. Knall und weiter!

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