Neues Album von Kanye West:Nenn mir ein Genie, das nicht verrückt ist

Kanye West dances during his Yeezy Season 3 Collection presentation and listening party during New York Fashion Week

Der Künstler im etwas zu großen Pullover: Kanye West läuft in den Madison Square Garden ein.

(Foto: REUTERS)

Von Kanye West wurde nicht weniger erwartet, als die beste Platte aller Zeiten zu fabrizieren. Und was liefert er ab? Eine pompöse Flüchtlingsshow, jede Menge Selbstdarstellung - und ja, einen großen Wurf.

Albumkritik von Julian Dörr und Jens-Christian Rabe

Jetzt ist es also endlich passiert: Kanye West hat in der Nacht von Donnerstag auf Freitag anlässlich der Veröffentlichung seines neuen, siebten Studio-Albums "The Life Of Pablo" die größte Laptop-Hörprobe der Popgeschichte veranstaltet. Vor 20 000 Fans, Freunden, Kollegen, Mitarbeitern und der Vogue-Chefredakteurin Anna Wintour im New Yorker Madison Square Garden.

Hat es das schon einmal gegeben, dass ein Star 20 000 Menschen in die berühmteste Konzerthalle Amerikas lädt, das alles auch noch in vollbesetzte Kinos auf der ganzen Welt live übertragen lässt - aber dann nicht die ganz große Pop-Show abzieht, sondern einfach mit Baseball-Cap und einem etwas zu großen roten Pullover reinkommt, sich seinen Laptop reichen lässt und neben einem Mischpult auf dem Parkett direkt vor den unteren Zuschauerrängen hinter dem Computer stehend einfach sein neues Album abspielt? Nein, das hat es noch nicht gegeben.

Aber es ist bislang natürlich auch noch niemand auf die Idee gekommen, die italienische Künstlerin Vanessa Beecroft bei einer Album-Premiere eine ihrer Menschenaufstellungen inszenieren zu lassen. Diesmal ein eindrucksvoll gespenstisches Massen-Tableau-Vivant mit todernst blickenden sehr schönen jungen, vor allem schwarzen Männern und Frauen in sehr hellbraunen Anoraks, schlichten, leicht retrofuturistischen Jumpsuits und robusten Stiefeln, die offenbar Flüchtlinge darstellen sollten. Nicht allzu subtiler, durch die eindringlich-kämpferischen Blicke der Protagonisten und ihre dezenten Kostüme aber nicht unbeeindruckender lebender Kommentar zur Weltlage. Die Flüchtlinge trugen aber natürlich nicht irgendwelche dezenten Kostüme, sondern die neue Modekollektion von Kanye West.

Aber wieder einmal war all der Wahnwitz nur die halbe Wahrheit. Seit Jahren legt Kanye West ein Album nach dem anderen vor, dass der zeitgenössischen Popmusik zeigt, was möglich ist, wenn der lauwarme, aber kommerziell vermeintlich sicherere Weg keine Option sein darf. Wenn man gar nicht erst anfangen kann, wenn das Ziel nicht mindestens ist, das beste Album aller Zeiten zu machen.

"The Life Of Pablo" ist auf jeden Fall schon wieder ein ganz großer Wurf, ein ziemlich düsteres, fast klaustrophobisch klingendes, aber dennoch kraftvolles Neo-Gospel-Hip-Hop-Album, zu dem die Beecroft-Performance im Übrigen natürlich nicht besser hätte passen können. Aber der Reihe nach, Song für Song ...

1. Ultra Light Beams (feat. The-Dream, Kelly Price & Chance The Rapper)

Das erste Wort auf "The Life Of Pablo" hat ein kleiner Junge: "We don't want no devils in the house, we want the lord." Und nein, der Herr und Retter ist dieses Mal nicht Kanye "I am a God" West, sondern das Original. So demütig hat man den Meister lange nicht erlebt. Mit sanfter, beinahe souliger Stimme bedankt er sich für sein Glück. Das Schlagzeug wummst, die Kirchenorgel flötet und ein mächtiger Gospel-Chor fällt in den Song ein. Ein Knaller. Was für ein Anfang. Die Messe kann beginnen.

2. Father Stretch My Hand Pt. 1 & 2 (feat. Future, Kid Cudi & Desiigner)

Ein paar Sekunden noch hängt der Neo-Gospel in der Luft, dann stürzt der Song in die Hip-Hop-Gegenwart. Autotune ist zurück, die Stimmen sind so famos humanoid verfremdet, dass eigentlich ganz egal ist, wer hier singt oder worüber (unter anderem wohl über einen gebleichten, nun ja, Anus). Die Hi-Hat zuckt, immer wieder zieht das Tempo an, Samples und Silben stolpern dem Beat hinterher. Am Ende fragt eine zärtliche Roboterstimme: "How do I find you?" In diesem Song stecken mindestens drei Hits.

3. Freestyle 4

Los geht's mit einer Melodie, die wie ein kaputtes Kinderspielzeug klingt. Dann ruft West zum Rapport: "Wake up, Nigga, wake up!" Und es folgt ein harter, minimalistischer Track mit scheppernd-verhangenen Beats. "Name one genius that ain't crazy".

4. Famous (feat. Rihanna & Swiss Beatz)

Ein Popsong nach allen Regeln der Kunst - und doch viel mehr. Rihanna singt den Refrain formvollendet geschmeidig. Dann stampft der Song davon und Kanye fantasiert von Sex mit Taylor Swift. Songfragmente treiben gegen- und auseinander, der Refrain orgelt sich zurück, ein Sample schießt dazwischen. Anders gesagt: Ein kompliziertes Stück Popmusik, um viele Ecken gebogen und dann doch nichts anderes als Ausdruck der Liebe zur großen Melodie.

Der Gott des Größenwahns auf Versöhnungskurs?

5. Highlights (Feat. Young Thug)

Noch ein Song, der eigentlich unhörbar sein müsste, aber doch ohne Umwege ins Hirn findet. Drei Mal legt "Highlights" los und drei Mal findet das Stück kein Ende. Am Anfang steht ein Gospel-Gebet, dazu klatscht ein kräftiger Beat auf Pianoakkorde. Kurz darauf öffnet sich der Autotune-Himmel und Young Thug und Kanye dehnen Vokale vor Synthiestreichern in die Glückseeligkeit: "We only making the hiiiiiiighliiiiiiiights." Im dritten Part wird es dann persönlich. "I bet me and Ray J would be friends", rappt Kanye über Kims Sextape-Ex. Der Gott des Größenwahns auf Versöhnungskurs? Das ist wirklich das schrägste Gospel-Album aller Zeiten.

6. Feedback

Zu feinster Alptraum-Filmmusik beginnt hier des klaustrophobische Teil der Platte. Streicher liefern den Hintergrund für merkwürdige Lautmalerei Wests, während eine "Yeezus"-Sirene auf den Offbeat dröhnt. Ziemlich verstörend - und dann schleicht sich auch noch ein trippiger Beat ein. Doch kaum hat er seinen Platz im Song gefunden, wird er schon wieder rausgedreht. Und Kanye rappt ins Leere: "I love you like Kanye loves Kanye." Wie ein Trost hört sich das nur ganz und gar nicht an.

7. FML (Feat. The Weeknd)

Es hat sich ja schon angedeutet: Kanye, der große Unbequeme und Säbelrassler des Hip-Hop, scheint ein kleines Bisschen altersmilde geworden zu sein. In "FML" geht es hinab in sein Innerstes: die Selbstzweifel, die Einsichten und die Angst, die Sache so richtig zu verbocken. Wer wäre dabei ein besserer Partner als The Weeknd? Gemeinsam schweben sie majestätisch durch die Düsternis.

8. Real Friends (feat.Ty Dolla $ign)

Die grazile Ode an die Freundschaft. Mehr eine vertonte Meditation als ein klassischer Song. Die Bassdrum bufft vergleichsweise sachte dahin, die Hi-Hat hallt im Hintergrund mächtig-metallisch, an der Grenze zum Erträglichen dröhnt die kleine Melodie um die Rap-Parts herum und klingt dabei, als hätte man hohe Steeldrum-Töne in die Länge gezogen, dazu ein bisschen Unterwasser-Klavier-Akkorde.

9. Wolves (feat. Frank Ocean)

Grandios verschleppte Expedition auf die dunkle Seite der Liebe: "I'm just way too bad for you." Autotune verwobbelt den Chor-Gesang, glockenhell schwebt die Melodie darüber, als hätten böse Geister gute Laune.

1. Zugabe: Facts

Ein Sneaker-Battlerap, der es wohl nicht auf das Album geschafft hat. "Yeezy, Yeezy, Yeezy just jumped over Jumpman": Wer ist der größte Schuhmacher im Land? Der Kanye-Stiefel schlägt hier selbstverständlich den Michael-Jordan-Sneaker. Aber nichts für ungut, Mr. Jordan. Erscheinen wollte der Übersprungene im Madison Square Garden nicht. Der Song ist tatsächlich ein hektisch-treibender, aber ziemlich dürftiger Diss-Track. Nichts für ungut, Mr. West.

2. Zugabe: Fade (feat. Ty Dolla $ign & Post Malone)

Auch "Fade" fehlt vermutlich auf dem Album. Aus dem Abend im Madison Square Garden ließ sich mit seiner wunderbar elastischen Baseline und seinem trocken-technoiden Vierviertelbeat allerdings auf jeden Fall sehr gut heraustanzen.

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