Neues Album "Joanne":Lady Gaga sucht einen breitbeinigen Cowboy

Joanne - Lady Gaga

Lady Gaga

(Foto: dpa)

Früher kämpfte die Musikerin für alle, die anders sind. Jetzt tritt sie mit ihrem neuen Album in Country-Bars auf, in denen ihre Fans fürchten müssen, eins auf die Nase zu bekommen.

Albumkritik von Jan Kedves

Hurra, endlich mal wieder eine ordentliche "girls' night out" mit der besten Freundin. Bis um vier Uhr morgens durch die Bars auf der Bowery in New York ziehen, saufen, rauchen, Händchen halten und sich mal wieder so richtig gegenseitig das Herz ausschütten. So wie wir es mit 17 gemacht haben, als wir noch jung und unbekannt und IRL - in real life, im wahren Leben - immer füreinander da waren. Damals, weißt du noch?!

Uff, Lady Gaga verlangt einem in ihrem neuen Song "Hey Girl" schon einiges ab an Romantisierungswillen. Klar, als Teenager kam einem das Leben noch unbeschwerter vor, man musste nicht unbedingt Hunderte SMS tippen, um endlich mal eine verbindliche Verabredung zu treffen, und der Kater am nächsten Tag war noch nicht so schlimm.

Und ja, es ist schön anzuhören, wie Lady Gaga sich in "Hey Girl" mit Florence Welch, der britischen Indierock-Zora von der Band Florence and the Machine, verschwestert. Die beiden singen im Duett zu Harfenklängen, abgefedertem Rock-Groove und Tuschs aus teuren Vintage-Synthesizern nicht jeweils eine Strophe, jede für sich, sondern sie wechseln sich Zeile für Zeile ab, oder vervollständigen - "Hey Mädchen, wenn du mich brauchst, dann sag's mir" - sogar gegenseitig - "denn ich brauch dich ja auch, Mädchen" - ihre Sätze. Schön!

Nostalgie und Lady Gaga - kann das funktionieren?

Nur: Ist es nicht ein bisschen trügerisch, das gemeinsame Abstürzen in Manhattaner Rockerkneipen zum Rezept gegen die Popstar-Einsamkeit zu verklären? Und abgesehen davon: Nostalgie und Lady Gaga, geht das überhaupt zusammen?

Neuerdings, ja. Im Grunde war schon das mit dem Jazz-Veteranen Tony Bennett eingesungene Duett-Album "Cheek to Cheek" vor zwei Jahren nostalgisch, wenn auch augenzwinkernd nostalgisch. Das Singen von Standards von George Gershwin, Cole Porter und Irving Berlin war für Stefani Joanne Angelina Germanotta, wie Lady Gaga bürgerlich heißt, damals vor allem ein Manöver, mit dem sie sich - nach ihrem rasanten Aufstieg zum Mega-Popstar mit digital aufgepumpten Dance-Hits wie "Poker Face", "Paparazzi" oder "Born This Way" - Zeit erkaufen wollte. Zeit, um zu überlegen, wie sie solistisch weitermachen solle.

Verloren im Zeitalter der sozialen Medien

Doch dann kam der Knacks. Lady Gaga spricht ganz offen darüber - und was sie gegen ihn unternahm. Im vergangenen Jahr stattete sie dem Center for Emotional Intelligence an der Yale University in Connecticut einen Besuch ab und erzählte den Studenten von ihren Depressionen. Sie warnte eindringlich davor, 24 Stunden am Tag in sozialen Netzwerken zu verbringen, denn das wirke sich desaströs auf den Emotionshaushalt aus.

Ihren digitalen Burn-out behandelte die inzwischen 30-jährige New Yorkerin nicht nur mit Psychopharmaka, sie nahm auch an von Marina Abramović in den Wäldern von Upstate New York geleiteten nudistischen Selbstfindungsritualen teil, machte Ayurveda-Kuren, Achtsamkeits- und Meditations-trainings, Akupunktur- und Schröpfbehandlungen, sie betete.

Und wandte sich, wie nun auf ihrem neuen Soloalbum "Joanne" (Universal) zu hören ist, der Rock- und der Countrymusik zu. Das kann man zunächst sicherlich begrüßen, denn Popkünstler sollen ja nicht auf ewig nur bratzigen Techno-Pop spielen, sondern sich auch mal weiterentwickeln und etwas Neues ausprobieren.

Ein Übermaß an Authentizismus

Lady Gaga holte sich fähige Unterstützung: Mark Ronson half als Fachmann für Mikrofonierung und warme Abmischung schon Amy Winehouse und Bruno Mars im Studio dabei, einen nicht kitschigen Retro-Sound zu entwickeln. Für "Joanne" hielt er als "Executive Producer" die Strippen in der Hand. Hinzu kam der Australier Kevin Parker, der Chef der im vergangenen Jahr für ihr Album "Currents" hoch gelobten Indierock-Band Tame Impala. In Nebenrollen: Josh Homme, Gitarrist der Wüstenrockband Queens of the Stone Age, Beck sowie der Blues-Folk-Prediger Father John Misty.

Und doch stellt sich die Frage: Treibt es Lady Gaga auf "Joanne" mit ihrem Rock-Authentizismus nicht ein bisschen zu weit? Es ist ja das eine, von Facebook, Twitter und Instagram ausgelaugt zu sein. In "Perfect Illusion", der ersten Single des Albums, heißt es, die digitalen Netzwerke seien eine Illusion. Und in der Ballade "Angel Down", die das Album beschließt, gesteht sie: "Ich bin im Zeitalter der sozialen Medien verloren."

Schön und gut. Aber muss die Suche nach mehr Direktheit und analoger Realness gleich dazu führen, dass man - wie in einem dokumentarischen Video über die Arbeit an "Joanne" zu sehen ist - seine Texte nicht mehr in einen Laptop tippt, sondern in eine alte Schreibmaschine? Muss jetzt auch Lady Gaga dem, wenn man mal ehrlich ist, eher einfältigen Credo der Craft-Bewegung auf den Leim gehen, dass alles Handgemachte automatisch eine größere Wahrhaftigkeit besitzt als digital Prozessiertes?

Lady Gaga singt nun für ein weißes, heterosexuelles Amerika

Das soll nicht heißen, dass auf "Joanne" nicht tolle Songs zu hören wären. Wie Lady Gaga in "A-YO", einem rasant eingängigen Bluesrock-Hit übers Kettenrauchen mit röhrender Gitarre und schnalzenden Doppel-Handclaps, die raspeligsten Stellen ihrer roh belassenen Gesangs-Takes so aneinanderstückelt, dass ein einziges, durchgängiges, heiseres Schreien entsteht - das ist sehr beeindruckend. Selbst Bette Midler hätte sich diesen Song nicht virtuoser aus ihrer Kehle kratzen können.

Handwerklich ist die Musik auf "Joanne" toll. Auffällig ist aber, dass sie in einem sehr weißen, raubeinigen und fraglos sehr heterosexuellen Amerika spielt. In einem Amerika, das sich von der bunten digitalen Monster-Welt, in der Lady Gaga ihre Musik bisher spielen ließ, grundlegend unterscheidet. Mit das Interessanteste an Lady Gaga war ja, wie sie die Möglichkeiten der sozialen Netzwerke, die zum Zeitpunkt ihres Aufstiegs, um 2008 herum, gerade noch neu waren, affirmativ nutzte.

Als selbsternannte "Mother Monster" baute sie im Internet eine globale Monster-Community auf, etablierte einen digitalen "safe space", in dem alle, die sich draußen irgendwie verstoßen oder verspottet fühlen - Schüchterne, Schwule, Transgender, Dicke, Freaks -, das Gefühl haben durften, bedingungslos willkommen zu sein. Wie viele Teenager-Leben hat Lady Gaga damit im wahrsten Sinne des Wortes gerettet?

Weg vom Monster, hin zur wilden jungen Amerikanerin

Das Utopische und Politische am Pop-Projekt Lady Gaga scheint mit "Joanne" in den Hintergrund zu treten. Für Stefani Joanne Angelina Germanotta bedeutet Verkleidung jetzt nicht mehr Freiheit zur andauernden Selbsterfindung, sondern Entfremdung. Sie trägt keine avantgardistischen Kostüme mehr, sondern tritt unspektakulär in fransigen Jeans-Shorts und rosafarbenem Cowboyhut auf, das war's. "Joanne" bewirbt sie, gesponsert von einem großen amerikanischen Bierbrauer, auf einer Klubtour durch Country-Bars im Hinterland der USA - Orte, die für ihre Monster nun nicht unbedingt safe spaces sind, sondern in denen sie eher fürchten müssen, eins auf die Nase zu bekommen.

Dort singt Lady Gaga - wie im fast schon Scorpions-mäßigen Eröffnungs-Song ihres Albums, "Diamond Heart" - davon, eine wilde junge Amerikanerin zu sein, die einen wilden jungen Amerikaner sucht, um mit ihm davonzubrausen. Oder davonzureiten. Am liebsten hätte sie nämlich einen echten breitbeinigen John Wayne, der ihr zeigt, wo's langgeht. Genau so heißt ein anderer Song: "John Wayne". Ein Augenzwinkern sucht man vergeblich.

Klar, auch Lady Gaga soll ganz nach ihren Wünschen glücklich werden. Aber wer kümmert sich jetzt um die Monster?

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