Neuer Roman von Olga Grjasnowa:Ganz von vorn anfangen - was für eine unverzeihliche Untertreibung

Olga Grjasnowa

Olga Grjasnowa, 1984 in Baku geboren, debütierte vor fünf Jahren mit dem Roman "Der Russe ist einer, der Birken liebt". Sie lebt in Berlin.

(Foto: Imago)

Amal und Hammoudi gehören zu den Happy Few der syrischen Oberschicht. Dann kommt der Krieg. Mit ihrem Roman "Gott ist nicht schüchtern" gelingt Olga Grjasnowa das schonungslose Porträt einer Generation.

Buchkritik von Frauke Meyer-Gosau

Sie sind jung, sie sind erfolgreich, sie sind schön und privilegiert. Die Schauspielerin Amal hat ihr Diplom noch nicht in der Tasche, da spielt sie bereits die Hauptrolle in einer TV-Serie und erhält dafür 20 000 Euro in bar auf die Hand. Es kann für sie in den kommenden Jahren nur weiter steil nach oben gehen. Der Arzt Hammoudi wiederum hat in Paris als Zweitbester seines Jahrgangs den Abschluss als Spezialist für plastische Chirurgie gemacht (beste Absolventin war seine jüdische Freundin Claire), und auch er erhält sofort eine Anstellung, an einem erstklassigen Pariser Krankenhaus. Auch seine Zukunft scheint aufs Beste gesichert. Wenn nicht in beiden Fällen die Politik mit aller Brutalität dazwischenführe und alle Aussichten der beiden auf ein Leben unter den Happy Few ihrer Generation beraubte.

Der im Untergrund arbeitende Arzt gerät immer tiefer in die politischen Konflikte hinein

In ihrem dritten Roman "Gott ist nicht schüchtern" hat Olga Grjasnowa das Gefälle zwischen der gesellschaftlichen wie biografischen Ausgangsposition ihrer Protagonisten und deren weiterer Lebensgeschichte besonders steil angelegt. Im Lauf der Jahre zwischen 2011 und 2016 werden Hammoudi und Amal alles einbüßen, was ihr bisheriges Dasein ausmachte. Zu sagen, dass sie noch einmal ganz von vorn anfangen müssen, wäre eine unverzeihliche Untertreibung.

Denn dieser Roman führt nach Syrien, mitten hinein in den Arabischen Frühling, der im Jahr 2011 auch auf das Herrschaftsgebiet von Baschar al-Assad übergreift. Amal, die aufgrund der zwielichtigen Geschäfte ihres Vaters in ökonomischer Sorglosigkeit lebt, schließt sich den Demonstrationen gegen das Regime an, Hammoudi muss nach Syrien zurückkehren, um seinen Pass verlängert zu bekommen. Danach will er seine Stelle in Paris antreten und mit Claire zusammenleben.

Doch während Amal dem Zugriff der Geheimpolizei zunächst noch aufgrund der guten Beziehungen (und den damit verbundenen Bestechungszahlungen) ihres Vaters entgeht, wird Hammoudi im Land festgehalten. In der Stadt Deir az-Sour, nahe der irakischen Grenze, wird er als im Untergrund praktizierender Arzt bald immer tiefer in die zunehmend brutalen Kämpfe verschiedener Gruppierungen um die Macht verwickelt.

Im Januar 2014, noch vor der Vernichtungsschlacht um Aleppo, schätzten die Vereinten Nationen die Zahl der Toten im syrischen Bürgerkrieg bereits auf mehr als 430 000, Hunderttausende fielen Vergewaltigungen und Folterungen zum Opfer. Diese Eskalation der Grausamkeit veranschaulicht Olga Grjasnowa in zwei einander nur kurz touchierende Hintergrundgeschichten. Sie erzählen vom Leben in einem auf der Willkür der Geheimdienste, auf physischer Gewalt und alltäglicher Korruption fußenden System, das allerhand Annehmlichkeiten für die Privilegierten einschließt und schließlich unweigerlich in die Flucht mündet. Beirut, Istanbul, Izmir, Italien, München sowie Izmir, Griechenland, Serbien, Frankfurt heißen die Stationen, über die Amal und Hammoudi schließlich nach Berlin gelangen.

Ein Land, das unaufhaltsam seinem Untergang entgegentaumelt

Zuvor jedoch werden wir in den Alltag in einem Land eingeführt, das anfangs kaum merklich, dann unaufhaltsam seinem Untergang entgegentaumelt. Während die schönen und vermögenden Frauen in Damaskus sich noch mit Dessous wie einem "String mit einer Rose, dem Symbol der Hisbollah" ausstatten und zumindest das Leben der Oberschicht weiterzugehen scheint wie eh und je, nimmt in der Provinz die Gewalt bereits zu, schließen sich junge Männer der Freien Syrischen Armee an, bilden sich aber auch zunehmend islamistische Kämpfergruppen, die am Ende die Stadt Deir az-Sour in ein glosendes Trümmerfeld verwandeln werden.

Amals russisch-syrische Familie, in der Russisch gesprochen und gut gekocht wird - das Klavier von Mutter Swetlana trägt den Namen "Roter Oktober" -, ist zu diesem Zeitpunkt längst zerfallen. Amal war elf Jahre alt, als die Mutter allein nach Russland zurückkehrte. Wie sich später zeigt, unterhält der Vater parallel eine zweite Familie mit syrischer Ehefrau und drei weiteren Kindern, während er sich vom Restaurant-, Konditorei- und Buchladenbesitzer zum undurchsichtigen Geschäftsmann mausert. In Hammoudis Familie wiederum haben schon die Frauen der Mutter-Generation Medizin studiert, Bildung und Vermögen gehören hier wie selbstverständlich zusammen.

Mit erstaunlich konkreter Kenntnis erzählt Grjasnowa vom Leben der syrischen Oberklasse

Dies alles erzählt Grjasnowa mit erstaunlich konkreter Kenntnis des syrischen Lebens der Oberklasse vor dem Beginn des Bürgerkriegs. Umso krasser danach der Sturz ins Nichts, der vor allem für den unter Lebensgefahr operierenden Arzt Hammoudi schon Monate vor seiner Flucht begonnen hat. Ebenfalls als Flüchtlinge treffen dann Amal und ihr Studienkollege Youssef, dessen Familie aus Palästina stammt, in Beirut aufeinander. Sie tun sich mehr zu einer Not- als einer Liebesgemeinschaft zusammen, schlagen sich unter feindseligen Bedingungen mit Hilfsarbeiten durch und können doch ebenso wenig bleiben wie Hammoudi in seiner türkischen Durchgangsstation Izmir. Auf ihrer Flucht übers Meer werden Youssef und Amal zu Zufallseltern der kleinen Amina, deren Mutter mutmaßlich mit Hunderten anderer ertrunken ist, Hammoudi erreicht Deutschland von Lesbos aus, nachdem er in Serbien von einer Grenzpolizisten-Gang ausgeraubt wurde. Beide Fluchtwege sind von krimineller Geschäftemacherei, Grausamkeit und Menschenverachtung gesäumt.

Eine große Stoffmasse hat Olga Grjasnowa auf gerade einmal 300 Seiten zusammengeballt, und wahrscheinlich war es gar nicht anders möglich, als diese Leidensgeschichten auf extrem zurückgenommene, literarisch auffallend schlichte Art zu erzählen. Die Biografien selbst haben eine solche Wucht, dass jede Ausschmückung den Leser erschlagen hätte. Und natürlich gehen die Geschichten nicht gut aus. Zwar übersteht die Kleinfamilie von Amal, Youssef und Amina auch die Eingewöhnungsphase in Berlin. Und Amal wird sogar zum Star einer deutschen Kochshow (deren alberner Titel "Dein Flüchtling kocht" freilich in ein anderes literarisches Fach gehört), während der frühere Regisseur Youssef in einem arabischen Supermarkt Arbeit findet. Hammoudi aber kommt bei einem Angriff auf das Flüchtlingsheim in der ostdeutschen Provinz, dem er zugewiesen worden war, ums Leben.

"Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen", hat Bertolt Brecht im Jahr 1941, auf die eigene Flucht-Erfahrung gegründet, in seinen "Flüchtlingsgesprächen" geschrieben. Weshalb sich daran auch ein Dreivierteljahrhundert später nichts geändert hat, erzählt Olga Grjasnowa in ihrem Roman aufrüttelnd und schonungslos.

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