Neuer Roman "Das kalte Jahr":Endzeit mit Bommelmütze

Cormac McCarthys Roman "Die Straße" in der Verfilmung von John Hillcoat

Wie in Cormac McCarthys Roman "Die Straße" (hier eine Szene aus der Verfilmung von John Hillcoat, 2009) versuchen ein Mann und ein kleiner Junge, in einer Welt zu überwintern, in der nicht nur das Klima Amok läuft.

(Foto: Cinetext/ Allstar/ Dimension Films)

Brütende Dumpfheit, taumelnde Assoziationen: Roman Ehrlich reist in seinem klugen, postapokalyptischen Debütroman "Das kalte Jahr" an den Nullpunkt der Literatur. Das Leseglück liegt hier in phantastischer Verschwendung.

Von Florian Kessler

Auch das ist also ein Abschied von den Eltern: die banalsten, als Kind antrainierten Kniffe ignorieren und zum Beispiel im Winter beim Betreten fremder Häuser den Mantel anlassen.

In Roman Ehrlichs Debütroman ist die Mini-Rebellion gegen das Zwiebeldogma des ständigen An- und Ausziehens von Kleiderschichten so etwas wie ein poetischer Akt. Immer wieder sitzt der Erzähler dick eingemummelt in überheizten Wohnstuben, immer wieder wird ihm davon schummrig warm und fallen ihm fast die Augen zu. Und immer wieder hat dieser erstaunliche Roman damit genau jenen Bewusstseinszustand zwischen brütender Dumpfheit und taumelnden Assoziationen erreicht, für den er sich eigentlich interessiert.

In letzter Zeit hat die jüngere Gegenwartsliteratur einige Romane hervorgebracht, die in schlagkräftigem Verhältnis zum Erzählen stehen. Auf die seit Jahren gern erhobene Forderung, doch bitte "welthaltiger" zu erzählen, reagieren sie durch Planübererfüllung.

Ob Peggy Mädlers "Legende vom Glück des Menschen" mit den wechselseitigen Überschreibungen einer DDR-Staats- und einer Familiengeschichte oder Dorothee Elmigers "Einladung an die Waghalsigen" mit einer veritablen Endzeit als Anreiz, noch einmal diverse Menschheitszeugnisse aus dem Archiv zu ziehen: Statt der einen welthaltigen Geschichte werden überströmend viele mögliche Weltgeschichten durchgespielt. So wird angenehm lebendig auf der Fiktionalität allen Erzählens bestanden, ohne dass dabei gleich die nächste Postmoderne ausgerufen werden müsste.

Auch der 1983 geborene, am Leipziger Literaturinstitut ausgebildete Roman Ehrlich drückt zunächst den Aus-Knopf für gängige Erzählkonventionen. Aus dem Nichts heraus überkommt seinen Ich-Erzähler zu Beginn der Entschluss, zu Fuß die Heimatstadt zu verlassen.

Ein großartig eigensinniger Beobachter

In winterlicher Eiseskälte bricht er zu einem Marsch in Richtung Norden auf, zu seinem Elternhaus, das am Meer bei einem aufgegebenen Militärstützpunkt liegt. Der Mann ist ein großartig eigensinniger Beobachter. Überdeutlich, wie aus den aufgerissenen Augen eines fortwährend gegen den Schlaf Ankämpfenden, reihen sich groteske Bildfetzen von Autobahnen und Winterbäumen, Raststätten und Gewerbeparks aneinander.

Als der Mann sein Elternhaus erreicht, sind die Eltern fort. In dunkler Traumlogik akzeptiert der Mann dieses Fehlen umstandslos - und ebenso den fremden kleinen Jungen, der das Haus alleine bewohnt und sich ausgerechnet das alte Kinderzimmer als Rückzugsort ausgesucht hat. Mann und Junge arrangieren sich. Während draußen Dorf und Welt in Schnee und Kälte versinken, beginnt der Mann, dem Jungen Geschichten zu erzählen.

Aber er erzählt nicht nur. Die krude Kettengeschichte, in der er beispielsweise von den in Chicago 1887 hingerichteten Haymarket-Streikführern auf die Konzeption der Hochhäuser Chicagos und von diesen auf den Stararchitekten Frank Lloyd Wright kommt, ist nur eine von vielen verschiedenen Unsinnsquellen des Textes.

Dutzende Schwarzweiß-Abbildungen hat Ehrlich in seinen Roman hineinkompiliert, die mal direkter und mal nebulöser dessen rätselhaftes Geschehen kommentieren. Immer mehr Informationen überfluten den Text auf immer neue Weisen.

Weder vorher noch nachher geht es um Grobverwandtes

Später heuert der Mann in einem lokalen Elektrofachmarkt an. Sein Job dort besteht darin, den ganzen Tag Fernsehen zu schauen, für die Dorfbevölkerung soll er möglichst sämtliche Informationen auf Videobändern aufnehmen.

Bizarre Umschalt-Erlebnisse werden protokolliert, der Erzähler nimmt seinen Informationspflichten immer exzessiver ernst: "Es gab auch einige Formen und Vorgänge zu beobachten, wenn man lange genug in das schwarz-weiße Gewimmel, das weiße Rauschen zwischen den Sendeplätzen starrte."

Je weiter sich der Text vorwärtsschiebt, desto kuriosere Materialkompilationen türmen sich auf. Aberdutzende Geschichten werden anskizziert, aber keine dieser Geschichten kann allein das Feld behaupten oder gar wahr sein. "Ich versuchte, nicht zu verstehen, was ich sah", sagt der Erzähler einmal, nachdem er den wippenden Bommel einer blauen Wintermütze betrachtet hat, und im Zusammenhang seiner schlafwandlerisch offenen Wahrnehmungen lesen sich sowohl Bommel-Betrachtung als auch Verstehens-Ablehnung wie die natürlichsten Sachen der Welt.

Lebensnäher und vielfältiger als hier hat die Gegenwartsliteratur schon lange nicht mehr der Forderung nach dem möglichst platt lebensnahen Roman widerstanden.

Fragen mag man höchstens, welchem Zweck dieser Widerstand bei Ehrlich eigentlich dient. Immerhin klingt im Text immer wieder eine ganz bestimmte Vorbildreihe an von Peter Weiss über W. G. Sebald bis zu Alexander Kluge, bei der die Montage von dokumentarischem und fiktionalem Material gezielt eingesetzt wurde, um politische Effekte zu erzielen.

Verschwendung von Zeit und Material

Wenn etwa Alexander Kluge in seinem Film "Vermischte Nachrichten" aus dem Jahr 1986 Wehrmachtssoldaten in Stalingrad von offensichtlichen Laienschauspielern mimen ließ, so wurden durch dieses Mittel unter anderem die Konstruktionsweisen von Geschichtsschreibung offengelegt.

Roman Ehrlich dagegen montiert einmal lediglich ein isoliertes Bild aus der Kluge-Filmsequenz irgendwo in seine Erzählung hinein: Irgendein toter Soldat lehnt da an irgendeiner Backsteinmauer, weder vorher noch nachher geht es um Krieg, Geschichte oder Grobverwandtes.

Überhaupt kann in Ehrlichs radikal kruder Romanwelt gar kein Bild größere Effekte erzielen, sind doch bei ihm alle größeren Sinnzusammenhänge ohnehin ausgeknipst. Anders als bei seinen Bezugsautoren politisieren die ununterbrochenen Assoziationen also nicht auf bestimmte Bezugspunkte hin, sie depolitisieren eher.

Aber ist das wirklich die einzig mögliche Lesart dieses klugen Romans? Oder nicht doch auf andere Weise zutiefst politisch, was einem beim Lesen von "Das kalte Jahr" widerfahren kann? Denn je freier dieses seltsame, brillante Buch sein Material zusammenwürfelt, desto freier gerät auch seine Lektüre. "Nichts als eine einzige Verschwendung von Zeit und Material", seufzt der Erzähler einmal. In solcher phantastischen Verschwendung liegt hier das große Leserglück.

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