Neuer Kannibalen-Roman:Diesmal kein perfektes Dinner

Wo ist sie denn nun hin, die maßlose Freiheit des Monsters? In seinem neuen Roman schwächt Thomas Harris seinen wunderbaren Psychopathen Hannibal Lecter, indem er ihm ein menschelndes Gewissen einhaucht.

Georg Klein

Alle lieben Hannibal Lecter. Wenn diese große Figur des trivialen Erzählens ein Rätsel der Rezeption umgibt, dann ist es die innige Sympathie, die dieser Serienmörder und Menschenfleischesser weltweit bei denen auslöste, die in einem der Bücher von Thomas Harris oder in einer der Romanverfilmungen auf ihn stießen.

Neuer Kannibalen-Roman: Der Mann hinter der Maske: Anthony Hopkins in seiner Paraderolle als Hannibal Lecter.

Der Mann hinter der Maske: Anthony Hopkins in seiner Paraderolle als Hannibal Lecter.

(Foto: Foto: dpa)

Wir, die globalen Sympathisanten, zitterten um diesen schlimmen Übeltäter, sobald ihn die Staatsgewalt oder andere Machthaber um Freiheit und Leben bringen wollten, und es erfüllte uns mit einer nicht geringen Genugtuung, wenn der siegreiche Hannibal seinem jeweiligen Gegenspieler die fragwürdige letzte Ehre erwies, einen ausgewählten Teil seines Körpers, zum Beispiel sein noch denkendes Gehirn, zu verspeisen.

Fatal beschädigter Held

Im nun erschienenen neuesten Roman "Hannibal Rising" brät unser Held das Wangenfleisch eines Kriegsverbrechers, eines Kindermörders und Raubguthändlers, zusammen mit frischen Morcheln in einem Wald in Litauen über offenem Feuer. Wer der Handlung, die 1941 mit der Ostoffensive der deutschen Wehrmacht beginnt, bis in die späten 50er Jahre gefolgt ist, hat Hannibal Lecter als Knaben, als Jugendlichen und als jungen Mann erlebt und eben zum zweiten Mal morden gesehen. Sechs weitere Opfer werden folgen, allesamt Männer, die mehr als einen einzigen Tod verdient hätten.

Dominanter noch als bereits in den vorausgegangenen Büchern ist der junge Hannibal Lecter ein Rächer. Jedem, den er zur Strecke bringt, hat Harris einen überschweren Rucksack aus Schuld aufgepackt: Mord, Folter, Vergewaltigung, Menschen- und Drogenhandel, individueller Sadismus plus die bereitwillige Beteiligung an den großen Verbrechen des Nazi-Regimes. Die maximale Schwarzzeichnung von Lecters Gegenspielern, die deshalb fast rundum wasserdichte Legitimation seiner Taten ist die erste auffällige Schwäche des Buches.

Schockierend herrliche Willkür

Sie beschädigt den Helden zwar nur indirekt, aber doch auf eine fatale Weise. Denn in den vorausgegangenen Romanen konnten schon Dummheit, Borniertheit, Stillosigkeit für Lecter schwer genug wiegen, um einen Zeitgenossen dem Tod zu überantworten. Unvergesslich und beispielhaft befriedigend bleibt dem Leser im Gedächtnis, wie er im "Schweigen der Lämmer" einen Mithäftling zwingt, an der eigenen Zunge zu ersticken, weil dieser der FBI-Agentin Starling sein Sperma ins Gesicht geschleudert hat.

Die schockierend herrliche Willkür, die in einer derart maßlosen Abstrafung liegt und die bislang die anarchische, antizivilisatorische Freiheit dieser Figur ausmachte, wird ihr nun von Harris kein einziges Mal gegönnt. Sein Protagonist erledigt schlicht eine Handvoll der vielen Kriegsverbrecher, die dem Nürnberger Gerichtshof und anderen Tribunalen entkommen konnten.

Das ist brav, allenfalls in der Art der Hinrichtung spektakulär. Hannibal Lecter, der zukünftige amerikanische Serienmörder, verhält sich in seinen europäischen Lehr- und Wanderjahren politisch korrekt. Die französische Polizei, die ihn eine Zeitlang inhaftiert, kann ihm allenfalls vorwerfen, dass er der Guillotine vorgreift.

Diesmal kein perfektes Dinner

Lesend beginnt man sich so bald nach der Figur zu sehnen, die Lecter in den bereits erschienenen Romanen gewesen ist. Im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses schien er uns weit freier, eine mysteriöse Wechselgestalt, halb ein ganz in sich gewandter Buddhist, halb ein archaischer Kopfjäger, der sich mit dem letzten Lebenshauch und dem Fleisch seines Feindes auch dessen Potenz und Aura einzuverleiben verstand.

Schwerer noch als die übertrieben gründliche Legitimation der Taten des jungen Hannibal Lecter wiegt eine zweite erzählerische Entscheidung: Thomas Harris liefert nun ausführlich die bereits im Roman "Hannibal" als Traumsequenz umrissene Begründung für die besondere seelische Gestimmtheit seiner Figur. Er greift platterdings zum Nächstliegenden: Dem zwölfjährigen Knaben Hannibal ist Schlimmes widerfahren.

Ein kindliches Schockerlebnis ist die logisch leicht nachzuvollziehende Ursache seiner späteren Taten. Es ist müßig, darüber zu streiten, ob die Armut dieses Einfalls oder das quietschend Mechanische, das zwanghaft Filmische seiner narrativen Durchführung, die Imagination des Lesers mehr beeinträchtigen. Harris hat parallel zum Roman auch das Drehbuch des bald in die Kinos kommenden Films geschrieben, und dass er als Autor zwei Fliegen mit einem Schlag erledigen wollte, ist im Aufbau der Szenen und in der Anlage der Dialoge ungut zu merken.

Geraubte Unheimlichkeit

Aber auch wenn das Buch raffinierter geschrieben wäre, der Schaden bliebe im Wesentlichen derselbe. Eine wunderbar offene, unsere Ängste wie unsere uneingestandenen Begierden ansaugende Figur wird zu einem vom Trauma programmierten Automaten.

Dies beraubt die Gestalt zwar nicht ihres ganzen Schreckens, aber fast vollständig ihrer Unheimlichkeit. Ihr weiteres Handeln wirkt vorhersehbar, auch die merkwürdigsten Hinrichtungsarten und Kochideen sind nun nur noch kuriose Varianten ein und desselben Wiederholungszwangs.

Soll uns Hannibal Lecter in Zukunft nicht mehr überraschen dürfen? Am Ende des nicht allzu langen, zunehmend hastig voranstolpernden Romans, dem in konsequenter Ausbeutung der Figur wohl noch ein weiterer über die amerikanischen Jünglingsjahre Lecters folgen muss, blickt man fast wehmütig auf jenen Hannibal Lecter zurück, der uns wie nur wenige Figuren der Trivialliteratur zugleich entsetzt und entzückt hat. Unerklärlich und deshalb hinreißend in ihrem Liebreiz war die Güte, zu der der Kannibale in manchen Momenten fähig war.

Ein Funken Hoffnung

In dieser spätmodernen Figur, in der die Autonomie des Individuums auf einen letzten eisigen Gipfel getrieben schien, schuf das Aufleuchten der Güte noch einmal jene Distanz zum Raubtier, jene humane Spanne, die einst in unergründbarer Vorzeit aufging, als zum ersten Mal ein Mensch einen anderen Menschen entgegen seinem Vorteil und ohne erkennbaren Grund verschonte. Hannibal Lecter war nie eine Bestie, weil er zur Güte fähig war. Und die Existenz seiner Güte ist als Rätsel größer und schöner als das Ausmaß seiner Grausamkeit. Besser als jeder Satz haben dies vielleicht die Augen des großen Lecter-Darstellers Anthony Hopkins gesagt, sobald sein Blick auf der FBI-Agentin Clarice Starling ruhte.

Hier glimmt auch jetzt noch ein Funken Hoffnung: Vielleicht kann der junge französische Schauspieler Gaspard Ulliel in der kommenden Verfilmung unserem geliebten Anthropophagen den Ausdruck dieser beunruhigenden Güte von Neuem verleihen. Mit der Güte kehrte dann auch die Freiheit zu Lecter zurück. Ja, eventuell kann dieser junge Darsteller, dessen linke Wange seit seiner Kindheit die Narbe eines Dobermann-Bisses ziert, auf der Leinwand heilmachen, was der allzu aufklärungswütige Autor mit Historie und Psychologie im Buch kaputt gemacht hat.

THOMAS HARRIS: Hannibal Rising. Roman. Übersetzt von Sepp Leeb. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2006. 345 Seiten, 19,95 Euro.

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