Neuer Gedichtband von Günter Grass:Wenn der Faden reißt

In seinem neuen Band "Eintagsfliegen" versammelt Günter Grass seine jüngsten Gedichte, darunter die Attacken auf die Atommacht Israel und die Verteidigung Griechenlands. Es geht dabei nicht um Fakten oder Argumente, sondern um das "Unbequeme" in literarischer Form. Relevant ist das nicht unbedingt.

Thomas Steinfeld

Die "Eintagsfliegen", der jüngste, gerade erschienene Gedichtband von Günter Grass, ist wie eine Kladde aufgemacht: im Querformat, in einem dunkelroten Karton, der von einer Art schwarzem Klebestreifen zusammengehalten wird. Auch die aquarellierten Zeichnungen, die der Schriftsteller seinen gut achtzig Gedichten beigegeben hat, erscheinen eher wie hingeworfen, ein Randgekritzel, für den Tag gemacht und nicht auf Dauer berechnet, eben demselben Programm verpflichtet.

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Günter Grass hat mit seinem neuen Gedichtband "Eintagsfliegen" ein Werk vorgelegt, das mit erheblichem Anspruch daher kommt.

(Foto: AFP)

Und doch kommt dieses scheinbar schon halb der Vergänglichkeit überantwortete Werk mit erheblichem Anspruch daher: Denn selbstverständlich ist diese Aufmachung eine kleine Kostbarkeit, und selbstverständlich meint es Günter Grass auch mit diesem Werk sehr ernst. Das fängt bei der Ausstattung - Baskerville Book, schweres Papier, Leinen aus Bamberg - an und hört bei der letzten Zeile - "von Station zu Station", weitere Stationen inbegriffen - noch lange nicht auf.

Also wie nun? Aus dem Tag und für den Tag? Oder doch eher für zumindest eine halbe Ewigkeit? Nein, beides zugleich, als Eingriff in das tägliche Leben und als die Zeiten überdauerndes Werk.

Tatsächlich hat Günter Grass zur Befestigung dieses Anspruchs im Lauf der Jahrzehnte eine besondere rhetorische Form perfektioniert, die sowohl mit dem Oxymoron - "Eile mit Weile" - als auch mit der Präteritio - "nicht der Rede wert" - verwandt ist und sich, logisch betrachtet, als Erhöhung des Bedeutungsanspruchs durch scheinbare Selbstverminderung darstellt.

Wie programmatisch Günter Grass diese Figur einsetzt, legt er im zweiten Gedicht dieser Sammlung dar, das den Titel "Nachgewiesene Existenz" trägt: "Warum dann dieser Aufwand mit Wörtern," heißt es darin, "Rauchzeichen und datierten Tatsachen, / für die jemand, der ich sein soll, / haftbar zu machen ist, weil sie benennbar sind."

Jede Art von Texten mit Zeilenumbruch

Einmal abgesehen von der Sprachmagie, die in dem Gedanken steckt, es trete jemand in Welt, nur weil er einen Namen trage; abgesehen auch von einem Rechtsfanatismus, der glaubt, Haftung sei die erste Äußerungsform eines Ichs - die Technik, ein Subjekt dadurch zu erschaffen, dass man von ihm redet, indem man seine Existenz erst einmal nicht gelten lässt, dürfte die sicherste Methode sein, es zu ungeahnter Größe heranwachsen zu lassen.

Gedichte hat Grass in diesem Band versammelt, und der Genrebegriff ist groß genug, um jede Art von Texten mit Zeilenbruch in sich aufzunehmen. Tatsächlich sind Zeilenbrüche, die an den Grenzen von Satzteilen entlanggehen, sowie gelegentliche Leerzeilen, um die Übergänge zu neuen Strophen (oder Sätzen) zu markieren, hier oft das einzige formale Merkmal, das die Lyrik als solche ausweist. Ausnahmen gibt es, etwa in "Europas Schande", dem Gedicht, das in urdeutscher Liebe zur vermeintlichen Heimat des Humanismus demonstrativ mit dem daktylischen Erbe des Hexameters spielt, um Griechenland gegen "dem Krösus verwandtes Gefolge" zu verteidigen.

Proklamation einer modernisierten Variante des Genies

Aber nicht die Form ist hier das entscheidende Merkmal, sondern der Umgang mit dem lyrischen Ich. Dass dieses Ich nicht identisch ist mit dem Autor, lernten Germanisten früher im ersten Semester. Bei Günter Grass aber wird das Changieren zwischen dem empirischen und dem poetischen Ich, wird die emphatisch reklamierte und zugleich zurückgewiesene Autorschaft zur Grundlage des Dichtens überhaupt.

Denn weniger, als dass er seine Gedichte schriebe, wachsen sie vor sich hin: "Wo fängt Prosa an, wo hört Lyrik auf?", lautet die letzte Strophe eines Gedichts, das "Kleine Versschule" heißt. "Vielleicht wissen beamtete Schriftgelehrte / oder das freischwebende Feuilleton, / ab wann die Erzählung rhythmisch stolpern, / das Gedicht episch wuchern darf". Die Frage ist rhetorisch gemeint und verwandelt Wissenschaft wie Kritik in eine Art Literaturpolizei, während sie für den Schriftsteller eine modernisierte Variante des Genies reklamiert.

Dichtung ist, demselben Gedanken zufolge, ein literarisches Genre, das seinen Urheber absolut unangreifbar macht, weil nicht er, sondern eine durch ihn hindurch wirkende Kraft der eigentliche Autor eines Werkes ist. "Für mich selbst überraschend", erklärt Günter Grass im aktuellen Katalog seines Verlags, hatten sich "zahllose Gedichte angesammelt, die jetzt zu Papier gebracht werden wollten."

Was dann spricht, ist eher Medium als Dichter, und es ist das Medium, das weiß, dass Menschen, die mit solchen Botschaften nicht einverstanden sind, denen womöglich die Achtung vor dem Originalen und der Glaube ans Genie fehlt, "Kleinmeister billiger Häme" sind.

Es gibt im deutschen eine ganze Reihe grammatischer und rhetorischer Figuren, die dazu geeignet sind, dieses stolze Nicht-Ich auftreten zu lassen. Die Rede von sich selbst in der dritten Person: "er, dem seit kurzem / immer wieder der Faden reißt; die Beschreibung eines Subjekts durch seine Attribute: "Sonst noch zeugen von ihm hinterlassene Krümel"; die Verschiebung des Subjekts: "sobald sich mir eines der Bücher öffnet" oder "Wach hingegen hält mich von frühan"; ein abstrakter Stellvertreter des Subjekts: "Sobald die Ampel wieder einmal / auf Rot steht, kommt mir in den Sinn"; Das Passiv gehört auch dazu, aber Günter Grass scheint es eher in Prosa zu bevorzugen.

Es ist diese Figur der reklamierten und zugleich zurückgewiesenen Autorschaft, dieses literarische "Hier stehe ich und kann nicht anders", das auch dem berühmtesten Gedicht dieser Sammlung zugrundeliegt, den neun Strophen von "Was gesagt werden muss", die vor einem halben Jahr nach ihrem Abdruck Süddeutschen Zeitung einen mittleren politischen Skandal auslösten, weil der Dichter darin Israel anklagte, einen Atomschlag gegen den Iran vorzubereiten.

Es geht letztlich nicht um Fakten

Ob Günter Grass nun in der Buchfassung eine Zeile geändert hat - es heißt nun nicht mehr "die Regierung der Atommacht Israel", sondern "die gegenwärtige Regierung der Atommacht Israel" - ist in dieser Hinsicht ebenso unerheblich wie das Auftauchen eines Gedichts zu Ehren von Mordechai Vanunu, des Technikers, der vor fünfundzwanzig Jahren englischen Zeitungen die Existenz des israelischen Atomwaffenprogramms verriet.

Denn es geht in solchen Zeilen ja letztlich nicht um Fakten, die sich verifizieren, oder um Argumente, die sich begründen lassen. Sondern um das "Unbequeme" in literarischer Form: um eine literarisch-politische Existenz mithin, die man nur bestätigen kann. Oder auch nicht.

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