Neue Taschenbücher:Mord oder Heldentum 

E.M. Remarques unbequemer Landserroman "Zeit zu leben und Zeit zu sterben"; dazu u. a. ein Roland-Barthes-Krimi von Laurent Binet und David Hume über den Freitod.

Mord oder Heldentum - Remarques "Zeit zu leben und Zeit zu sterben"

Neue Taschenbücher: Erich M. Remarque: Zeit zu leben und Zeit zu sterben. Hrsg. u. mit einem Nachwort von Thomas F. Schneider. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 586 S., 12 Euro

Erich M. Remarque: Zeit zu leben und Zeit zu sterben. Hrsg. u. mit einem Nachwort von Thomas F. Schneider. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 586 S., 12 Euro

Ein Landserroman von 1954, der, in distanzierter, kritischer Perspektive erzählt, gar nicht die Bedürfnisse der Leser der Adenauerzeit befriedigen sollte. "Man kann alle Dinge von verschiedenen Standpunkten aus beleuchten", hieß es in einem Leserbrief zum Vorabdruck in der Münchner Illustrierten, "Remarque nun sieht die Dinge aus der Perspektive eines eklen Leichenwurms, der sich im Unrat wühlend wohlfühlt und von diesem lebt. Da ist nichts weiter zu sagen..."

Natürlich hatte Erich Maria Remarque Provokation im Sinn, als er seinen Roman über den deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg mit den Sätzen begann: "Der Tod roch anders in Rußland als in Afrika ... Es war ein trockener Tod, in Sand, Sonne und Wind. In Rußland war es ein schmieriger, stinkender Tod."

Im Frühjahr 1943 - der Schnee schmilzt und die Toten kommen langsam wieder an die Oberfläche - kriegt der Gefreite Ernst Graeber drei Wochen Heimaturlaub. Er war in Polen, den Niederlanden, Frankreich, Afrika, nun ist er mit seiner Einheit in Russland auf dem Rückzug. In seiner Heimatstadt ist das Elternhaus abgebrannt, die Eltern verschwunden. Es gibt eine Liebesgeschichte mit der Jugendfreundin Elisabeth, eine Begegnung mit dem alten Religionslehrer Pohlmann - Remarque hat ihn selbst gespielt in der Verfilmung von Douglas Sirk (die den Titel trägt "A Time to Love and a Time to Die"). Es geht um den deutschen Soldaten zwischen Gehorsam und Selbstverantwortung, um Mitschuld an den Naziverbrechen. Die erste deutsche Ausgabe bei Kiepenheuer & Witsch erschien mit Verspätung, ein Verlagsgutachter hatte inkorrekte Stellen moniert, Remarque schrieb Tank statt Panzer, aber auch die Art, wie Vierteljuden oder SS-Leute im Roman agieren. Kritik an der Wehrmacht wurde gemildert. Die neue Ausgabe ist nach der Originalkopie, die Remarque seinen Übersetzern sandte, im Nachwort skizziert Thomas F. Schneider die Publikationsgeschichte. Auch ein Satz von Pohlmann wurde gestrichen: "Wann wird zu Mord, was man sonst Heldentum nennt?" Fritz Göttler

Ein semiologisches Abenteuer

Neue Taschenbücher: Laurent Binet: Die siebte Sprachfunktion. Aus dem Französischen von Kristian Wachinger. Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 528 Seiten, 12 Euro.

Laurent Binet: Die siebte Sprachfunktion. Aus dem Französischen von Kristian Wachinger. Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 528 Seiten, 12 Euro.

Der Autor ist tot, zumindest fast. Roland Barthes, der berühmte Semiotiker, wurde von einem Laster angefahren, er liegt schwer verletzt im Krankenhaus, von einem Manuskript, das er bei sich trug, fehlt jede Spur. Kommissar Bayard hat den Verdacht, dass mehr als ein Unfall hinter all dem steckt. Feinde jedenfalls scheint Barthes so einige gehabt zu haben: die Bourgeoisie, die Faschisten sowie die Stalinisten, Gilles Deleuze. Bayard ermittelt unter den Poststrukturalisten, zu denen auch Barthes zählte. Für sie kann ein Zeichen nie erschöpfend gedeutet werden und die ganze Welt ist Text. Wo fängt man da mit der Entschlüsselung an?

Die Theorien der großen französischen Intellektuellen paktieren oft mit der Detektivarbeit, und Laurent Binet hat aus diesen Steilvorlagen einen geradezu zwingenden Kriminalroman gesponnen. Seine Darstellungen der historischen Charaktere sind treffend, tendieren aber manchmal zum akademischen Kalauer. Die Achtziger in Frankreich zeichnet der Roman als witzige, scharfe Karikatur und nebenbei gibt er eine Einführung in Literaturtheorie. Mit Barthes könnte man sagen, hier wirkt "Die Lust am Text". Nicolas Freund

Blick ins Buch - Binet

Objekt der Begierde

Neue Taschenbücher: Madeleine Bourdouxhe: Auf der Suche nach Marie. A. d. Fran. v. M. Schlitzer. M. e. Nachwort v. F. Evans. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2018. 188 S., 12,90 Euro.

Madeleine Bourdouxhe: Auf der Suche nach Marie. A. d. Fran. v. M. Schlitzer. M. e. Nachwort v. F. Evans. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2018. 188 S., 12,90 Euro.

Paris vor dem II. Weltkrieg. "Sie hegte und pflegte diese Beziehung seit Jahren, und jetzt ..." In Maries Leben gibt es ein Vorher und ein Nachher, und die drei Auslassungspunkte, die Madeleine Bourdouxhe ans Satzende gesetzt hat, markieren diesen Wandel: Bislang dachte die 30-jährige Marie, sie sei glücklich verheiratet. Dann macht sie mit ihrem Mann Jean Urlaub, und dabei begegnet ihr Blick einem jungen Studenten. Er weckt in ihr die Sehnsucht nach dem Neuen, Unbekannten. Fortan wird sie ihn immer wieder treffen und trotzdem bei Jean bleiben. Aber als andere Frau, die die Intensität des Lebens spüren will, unabhängig und ihrer selbst ganz sicher: "Warum sollte ich das zügeln, was ich so stark empfinde?" Madeleine Bourdouxhe, 1906 in Lüttich geboren und 1996 in Brüssel gestorben, befreundet mit Simone de Beauvoir, ist eine fulminante Entdeckung. Mit "Auf der Suche nach Marie" (der Titel ist natürlich eine Anspielung auf Proust) liegt erst der zweite Roman von ihr auf Deutsch vor. Erstmals 1943 erschienen, wurde er danach selbst in Frankreich lange vergessen. Wer ihn gelesen hat, wird seine Heldin nie mehr vergessen. Florian Welle

Von Rosstäuschern und Salamikrämern

Neue Taschenbücher: Rudi Palla: Die Welt der verschwundenen Berufe. Insel Verlag, Berlin 2018. 295 Seiten, 16 Euro.

Rudi Palla: Die Welt der verschwundenen Berufe. Insel Verlag, Berlin 2018. 295 Seiten, 16 Euro.

Die Namen mancher Berufe klingen nach Märchen und Legenden. Doch bezeichneten sie reale Tätigkeiten zum Geldverdienen, um das Leben fristen zu können. Etwa Abtrittanbieter, die, ob Mann oder Frau, im 18. und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, Bürgern als wandelnde Notdurftstation dienten mit Eimer und Schutzmantel. Oder Wollschläger, die Wolle mit dem Wollbogen schlugen zur Reinigung und Lockerung. Der Wiener Rudi Palla, Jahrgang 1941, hat die "untergegangenen Berufe" gesammelt und so beschrieben, dass sein Buch zu einer Kulturgeschichte der besonderen Art wurde. Erstmals 1994 erschienen, ist es nun in gekürzter Form als Taschenbuch herausgekommen und liest sich frisch wie am ersten Tag. So fertigte der Bartenhauer all jene Streitäxte, Hellebarden und Piken, mit denen man Ross und Reiter scheußlich zurichten konnte. Einen anderen hält man gerne für eine Fantasiegestalt, doch der oft kleingewachsene Hofnarr gehörte als Kuriosität schon bei Roms Kaisern zum festen Bestand des Hofes. Oder er hatte Narrenfreiheit und durfte mit geistreichem Spott bis zum Sarkasmus hin seinem Herrscher den Spiegel vorhalten. Harald Eggebrecht

Blick ins Buch - Palla

Kunst als politischer Akt

Neue Taschenbücher: Geoffroy de Lagasnerie: Denken in einer schlechten Welt. Aus dem Französischen von Felix Kurz. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 120 Seiten, 15 Euro.

Geoffroy de Lagasnerie: Denken in einer schlechten Welt. Aus dem Französischen von Felix Kurz. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 120 Seiten, 15 Euro.

Der Philosoph und Soziologe Geoffroy de Lagasnerie gehört mit Édouard Louis und Didier Eribon zu jenen Intellektuellen, die in den letzten Jahren das oppositionelle Denken in Frankreich maßgeblich prägten. Sein aktueller Essay ist eine Streitschrift wider die vermeintliche Neutralität von Kunst und Wissenschaft: ,L'art pour l'art' oder die Trennung von Wissen und Engagement seien eben keine reine Beschäftigung mit der Sache selbst, sondern immanent politische Akte, "unethische Entscheidungen für das Mitmachen". Vor allem am Beispiel der Sozialwissenschaften und auf den Schultern von Horkheimer, Adorno, Foucault und Bourdieu begibt er sich auf die Suche nach einer zeitgemäßen Ethik für intellektuelle und kulturelle Lebensentwürfe. Seinen Vorbildern fügt er dabei nur punktuell Neues hinzu. Interessant ist vor allem, wie er ihre Ansätze gekonnt variiert und aktualisiert. Sicherlich vermag er seinen akademischen Stil nicht in dem Maße aufzubrechen, wie es sein Aufruf zur Zertrümmerung der akademischen Elfenbeintürme eigentlich erforderte. Doch tut dies der Verve seiner eindringlichen Analyse keinen Abbruch. Volker Bernhard

Blick ins Buch - Lagasnerie

Gottlos? David Hume über den Freitod

Neue Taschenbücher: David Hume: Über den Freitod. Über die Unsterblichkeit der Seele. Aus dem Englischen von Holger Hanowell. Reclam Verlag, Stuttgart 2018. 64 Seiten, 6 Euro

David Hume: Über den Freitod. Über die Unsterblichkeit der Seele. Aus dem Englischen von Holger Hanowell. Reclam Verlag, Stuttgart 2018. 64 Seiten, 6 Euro

So stellt man ihn sich vor, den Aufklärer: unbestechlich geltenden Dogmen widersprechend. Der Philosoph David Hume wagte es Mitte des 18. Jahrhunderts, "den Menschen wieder in sein ihm angeborene Freiheit einzusetzen, indem wir sämtliche üblichen Argumente gegen den Freitod überprüfen". Sein Hauptgedanke lautet: Die Selbsttötung greife nicht in die göttliche Vorsehung ein, weil sie doch selbst Teil dieser Vorsehung sein müsse. Der Suizid ist ein Eingriff in die Natur? Dann wäre es, schreibt Hume, auch "gottlos, Häuser zu bauen, den Boden zu bestellen oder den Ozean zu befahren". In seinem Einsatz für die Vernunft ignoriert Hume zwar ethische Einwände gegen den Selbstmord wie die Verpflichtung gegenüber den Angehörigen oder die Absolutheit der Menschenwürde, wie sie Humes Bewunderer Immanuel Kant postulieren wird; lesenswert ist seine Argumentation dennoch. Der Essay "Of Suicide" wurde zu Humes Lebzeiten nicht gedruckt, ebenso wenig wie sein Angriff auf die Unsterblichkeit der Seele: "Nichts in dieser Welt währt unendlich." Jetzt gibt es beide in neuer deutscher Übersetzung mit Erklärungen. Johan Schloemann

Blick ins Buch - Hume
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