Neue Genealogie der Menschenrechte:Heiligkeit für alle

Gibt es die Menschenrechte, weil wir uns für verletzlich oder weil wir uns für unverletzlich halten? Der Freiburger Soziologe Hans Joas versucht sich in seinem Buch "Die Sakralität der Person" an einer Antwort.

Dirk Lüddecke

Werden die Menschenrechte zum Gegenstand der Wissenschaft, von Soziologie oder Geschichte, kann eine emotionale Abkühlung eintreten. Die wissenschaftliche Aufklärung der historischen Genese und sozialen Funktionalität unserer tiefen moralischen Überzeugungen sowie der menschenrechtlichen Prinzipien des Rechtssystems mag ernüchternd wirken. Genealogische Berichte entfalten in der Regel entzaubernde Kraft.

Aktivisten: Asylbewerber-Unterkünfte sind menschenunwürdig

Aktivisten bei einer Demo: Asylbewerber-Unterkünfte sind menschenunwürdig.

(Foto: dpa)

Das staunende "Ohh" und "Ahh" vor einer Sache, die uns ergreift, verträgt sich nicht gut mit dem abgeklärten "Aha!", wenn wir sie uns einmal erklärt haben. Eine Geschichte der Menschenrechte, die uns darüber aufklärt, auf welch zufällige und verschlungene Weise wir historisch dazu gelangt sind, ihnen moralische und rechtliche Verbindlichkeit zuzusprechen, könnte ihre normative Kraft schmälern, ja ihre Geltung sogar vollends erschüttern.

Darin liegt das kritische Potential der Genealogie selbst dann, wenn sie nicht mit so bestürzenden Erklärungen unserer Überzeugungen aufwartet, wie einst Bernard Mandeville in seiner Bienenfabel im 18. Jahrhundert.

Indem Mandeville die zeitgenössische Auffassung der Tugend auf einen perfiden Politikerbetrug zurückführte und die hochgelobte Tugend zum illusionskünstlerischen Produkt einer Verbindung aus Schmeichelei und Eitelkeit erklärte, scheuchte er ganze Philosophengenerationen aus ihrem dogmatischen Schlummer. Friedrich Nietzsche und Michel Foucault waren die Erben einer solchen Form kritischer Genealogie.

Anderes plant der mittlerweile am Institute for Advanced Studies in Freiburg forschende Soziologe Hans Joas in seinem jüngst erschienenen Buch, das eine "neue Genealogie der Menschenrechte" verspricht. Es beansprucht, die historische Fragestellung nach der Herkunft der Menschenrechte mit einer affirmativen Erörterung zu ihrer Rechtfertigung zu verbinden.

Er glaube nicht an die Möglichkeit einer rein rationalen Begründung letzter Werte, so Joas, weil zu ihnen auch eine "affektive Intensität unserer Bindung" gehöre. Und die lässt sich nicht durch rationale Argumentation allein erzeugen, sondern verlangt das Erzählen von Geschichten jener Erfahrungen, die den Werten und Rechten des Menschen zugrundeliegen.

Als Alternative zu einer kritischen legt Hans Joas deshalb eine "affirmative Genealogie" der Menschenrechte vor. Als methodisches Vorbild und als Vordenker auf diesem Weg hat er den evangelischen Theologen und Kulturphilosophen Ernst Troeltsch entdeckt, der sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts weidlich am Problem des Historismus abgearbeitet hat.

In fünf Kapiteln und einer zentralen methodischen "Zwischenbetrachtung" - bei Soziologen seit Max Weber gern ein Ort für Wichtiges - nimmt er sich der Sache an. Nach Büchern über die Entstehung der Werte und das Verhältnis von Krieg und Werten will Hans Joas zeigen, wie die Ausbildung der Menschenrechte mit der Geschichte und den Erfahrungen von menschlicher Gewalt und Unterdrückung sowie deren partieller Überwindung verbunden ist.

Historisch rückt er das Ende der Sklaverei und die Abschaffung der Folter im Europa des 18. Jahrhunderts in den Mittelpunkt, sowie die Erfahrungen, Prozesse und Ereignisse, die zur Deklaration der Menschenrechte zu Beginn der Französischen Revolution sowie zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg führten.

Konzeptionell lehnt sich der Freiburger Soziologe an den französischen Gründervater der Disziplin, Emile Durkheim, an und spricht von der Sakralisierung der Person als dem entscheidenden Prozess, der in der Idee der Menschenwürde und in Menschenrechten institutionell zum Ausdruck kommt.

Anhand der UN-Menschenrechtserklärung von 1948 zeigt der Autor exemplarisch, was er sich unter einem für ihn zentralen Denkmotiv vorstellt: der Wertegeneralisierung. Das Verständnis von Werten ist eingebettet in kulturelle Kontexte von Erfahrungen, Geschichten, Praktiken, Institutionen und ihren Interpretationen. Aber es ist in diese Kontexte nicht "eingesperrt". Akte kreativer Interpretation können Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Religionen und kulturellen Traditionen entstehen lassen - so der durchaus menschenrechtsoptimistische Tenor.

Die zentrale These des Buches lautet, ...

Ende der Sklaverei

dass die Menschenrechte und die Idee der universalen Menschenwürde das Ergebnis eines Sakralisierungsprozesses seien. Jedes menschliche Wesen wurde fortan als heilig angesehen. Im Recht sei dieses Verständnis der Sakralität der Person institutionalisiert worden.

Auf eine genauere Abgrenzung von Menschenrechten und Menschenwürde wird dabei verzichtet - vielleicht in der Annahme, dass die Geschichte beider Vorstellungen auf dieselbe Sakralisierungsgeschichte hinausläuft. Dennoch ist der Unterschied zwischen beiden hinsichtlich ihrer Rechtfertigung wohl doch groß genug, dass er auch einen Unterschied macht.

Sakralität, wie Joas sie versteht, bezeichnet weder eine nur jenseitsbezogene Vorstellung noch eine seltene objektive Ausnahmeerscheinung. Es genügen schon zwei Qualitäten, damit auch säkularen Gehalten Sakralität zugesprochen wird: "subjektive Evidenz und affektive Intensität". Damit indes büßt das hohe Wort der Sakralität der Person viel von seinem verblüffenden Nimbus und die darüber erzählte Geschichte an Überzeugungskraft ein.

Denn was dem Menschen als Ausnahmeprädikat zunächst zugesprochen wird, das nimmt ihm die veralltäglichende Erklärung auch schon wieder. Denn es sollen bereits subjektive Evidenz und starke Gefühle genügen, um Heiliges in der Welt zu entdecken. Um als Vorstellung von der Sakralität der Person menschenrechtlich produktiv zu sein, muss das Heilige in recht kleine Münze getauscht werden.

Die Historikerin Lynn Hunt erzählt in ihrem 2007 erschienenen Buch "Inventing Human Rights" - das von Joas kurz diskutiert wird - eine andere Geschichte. Sie läuft, kurz gesagt, darauf hinaus, die Menschenrechte aus kulturellen Wandlungen hervorgehen zu sehen, im Zuge derer bei insgesamt gesteigerter Sensibilität auch in den Gefolterten und Versklavten Menschen gesehen wurden, die zu gleichen Empfindungen fähig sind wie andere Menschen auch.

Zum Träger von Rechten und Würde wurde der Mensch (jeder Mensch) nicht, indem er an Übermenschlichem teilhat, sondern als gleichermaßen und in hohem Maße verletzliches Wesen, in dessen Lage man bereit wird sich hineinzuversetzen.

Hans Joas präsentiert in seinem Buch viele Überlegungen, die eine solche Sicht auf die Menschenrechte und ihre Genese stützen. So beschreibt er, wie "erschütternde traumatisierende Erfahrung eigenen und fremden Leids zur Bindung an universalistische Werte führen können". Jedoch nimmt er an, seine These der Sakralisierung der Person sei fundamentaler als die Erklärung der in Los Angeles lehrenden Historikerin, weil die Sakralisierung auch noch die Bereitschaft zur Empathie erkläre.

In der gleichen Weise aber, wie das Buch in der Sakralisierung der Person den "Ausdruck einer tiefreichenden kulturellen Verschiebung" erkennt, zeigt Lynn Hunt, welche kulturellen Verschiebungen unmittelbar zu einer Steigerung der Sensibilität geführt haben könnten.

Unter den zeitgenössischen Büchern etwa waren es Werke der Empfindsamkeitsliteratur von Samuel Richardson und Jean-Jacques Rousseaus "Julie oder Die neue Héloise"; in der Philosophie sind die Varianten einer nicht-rationalistischen gefühlsbasierten Erklärung der Moral eines Francis Hutcheson, David Hume oder Adam Smith zu nennen.

Weder bedarf es zur Erklärung der intensivierten und ausgeweiteten Empathie einer speziellen handlungstheoretisch gedachten Motivation, noch wäre es plausibel, eine solche in der Heiligkeit der Person zu entdecken. Sakrales lädt normalerweise nicht zur Einfühlung ein.

Das neue Buch von Hans Joas zeigt gleichwohl auf bemerkenswerte Weise, wie kreative Versuche, religiöse Erfahrungen unter Bedingungen moderner liberaler pluralistischer Gesellschaften neu zu formulieren, menschenrechtlich produktiv sein können. Menschenrechte sind keine Zeugnisse eines aufklärerischen Triumphes über Tradition und Religion. Ebenso wenig lassen sie sich als eine logische Konsequenz ausgeben, die seit jeher im Christentum - und nur dort - latent vorhanden schlummerte.

Hans Joas' wichtiges Buch enthält eine wertvolle und wohlabgewogene Darstellung, wie die Idee der Menschenwürde und der Menschenrechte aus einer sich wechselseitig inspirierenden Parallelaktion säkularen und religiösen Denkens, Interpretierens und Handelns entstehen konnten.

Wer dabei, wie der Freiburger Soziologe, die Kreativität des Handelns und Interpretierens betont und um die Chancen weiß, Traditionen durch überraschende Artikulationen von Erfahrungen neu zu erfinden, der wäre der letzte, die Geschichte der Menschenrechte damit für auserzählt zu halten.

HANS JOAS: Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 303 Seiten, 26,90 Euro.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: