Neue CD: Rio Reiser "familienalbum":"Wir leben nicht tralala in lustigen Zeiten."

Rio Reisers schwerblütig-heitere Songs wurden von aktuellen Künstlern neu eingespielt und ganz im Geiste ihres Urhebers sehr eigenwillig interpretiert: Die gelungene Hommage an den viel zu früh gestorbenen Anarcho-Romantiker.

Bernd Graff

"Ich singe düstere Inhalte ja mit einem Lächeln. Es gibt - wenn auch nur in geringem Maße - den Ausblick auf ein Happy End." Stimmt, Rio Reiser, der am 20. August 1996 im Alter von 46 Jahren viel zu früh verstarb, sang aus Verzweiflung und sang gegen seine Verzweiflung an - düster, mit einem Lächeln und dem fast trotzigen Willen zum Happy End, das indes niemals stattfindet.

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"Ich müsste lügen," hat er in einem Interview ein Jahr vor seinem Tod der taz erzählt, "wenn ich sagen würde, dass ich keine Depressionen hätte. ... Außerdem leben wir ja nun mal momentan nicht tralala in den lustigen Zeiten, da kann man nur versuchen, diese Stimmung aufzunehmen. Das war ja bei den Scherben schon genauso."

Die "Scherben", damit ist die Berliner Anarcho-Rebello-Macho-Visio-Poeto-Band "Ton Steine Scherben" gemeint, das Agitrock-Kult-Quartett der siebziger und halben achtziger Jahre, das von Reisers Inspirationen lebte und schon mit seinem ersten Hit "Macht kaputt, was euch kaputt macht" den Nerv der Zeit traf und dessen Zuckungen fortan musikalisch befeuerte. Die "Scherben", die ihren Namen beim Troja-Entdecker Heinrich Schliemann entwendeten - "Was ich fand, waren Ton, Steine, Scherben" - waren die zornigen jungen Männer einer Westberliner Nudelsalat- und Hinterhof-Revolte, die oft genug für einen Hunger-, wenn nicht gar Gotteslohn aufspielte. Aber immer am richtigen Ort zur richtigen Zeit.

Die Romantiker um Reiser lieferten demnach den Soundtrack zur Wut auf den Nato-Doppelbeschluss, zur zaghaften Aufbruchsstimung nach den ersten Hausbesetzungen - zu einem Leben jenseits der bundesrepublikanischen Stille also, das sich ebenso engagiert wie illusionslos gab, aber das Träumen doch nicht ganz sein lassen konnte. 1985 trennte sich die Gruppe - finanziell am Ende. Die ehemalige Grünen-Chefin Claudia Roth war übrigens Managerin der "Scherben".

Reiser aber sprachformte weiter und avancierte danach solo zum Popstar: In die Charts rückte er 1986 mit seinem "König von Deutschland", die erste LP "Rio I" enthielt laut "Emma" das "schönste Liebeslied des Jahres" und "die schönste Aufforderung zu strafbaren Handlungen ("Für immer und Dich", "Laß uns das Ding drehen"). Die Grünen stellten sich im Wahlkampfjahr mit dem Slogan und dem Titel "Alles Lüge" vor. Rio engagierte sich in der Anti-Atom-Bewegung, u.a. mit seinen Beiträgen auf dem 5. Anti-Waahnsinn-Festival in Burgengenfeld. Im Oktober 1988 trat er in Ost-Berlin auf. Für zwei Konzerte hatte die FDJ Reiser gewinnen können, einzige Bedingung: den Ton-Steine-Scherben-Klassiker "Keine Macht für Niemand" solle er doch bitte nicht singen. Reiser kam, wie üblich barfuss, und sang gleich zu Beginn den "Grünen"-Titel "Alles Lüge". So viel Rebellion musste schon sein.

Dennoch: Seine Fans schwankten zwischen Bewunderung und Verachtung für den zum "Volkssänger" (Frankfurter Rundschau) gewendeten Poeten. Anpassung warf man ihm vor, weil er Schlagertexte für Marianne Rosenberg schrieb, für die er sogar einen Preis bekam, oder aber: man lobte ihn gerade deswegen für seine geniale Fortentwicklung. Eine Art vorweg genommene Joschkaisierung also, die von einer Seite "Verrat an alten Idealen" schimpft und auf der anderen die Professionalisierung des gestandenen Realo lobt. 1990 trat er in die PDS ein und wurde, nach Gregor Gysi, das zweitprominenteste Mitglied der Partei. Auch für sie spielte er im Wahlkampf.

Reiser, eine schillernde, eine einflussreiche und eine genuine Figur der deutschen Pop-Geschichte also. Eine, die wohl nur zu einem dezidierten historischen Augenblick möglich war, die aber dennoch zeitlose Stücke produziert hat.

edel records ist es darum zu danken, dass sie nun in einer großartigen Hommage an Reiser und seine schwerenblütigheiteren Lieder erinnern. "familienalbum" ist die wunderbare, von Franz Plaza produzierte CD betitelt, die aktuelle Bands und Interpreten versammelt, um Reisers Musik (und Texte) neu einzuspielen. Ein gelungenes Experiment: Gestandene Songschreiber und Musiker der Gegenwart reiben sich da an Reiser, interpretieren, akzentuieren neu und immer individuell - aber immer Reiser-gerecht. Xavier Naidoo und die Söhne Mannheims entdecken in ihrer Version von "Mein Name ist Mensch" (vom Album "Warum geht es mir so dreckig?", 1971) marschbetonte Rhythm&Soul-Elemente, Nena rockt "Schritt für Schritt ins Paradies" (vom Album "Keine Macht für Niemand", 1972). Die junge Band Wir sind Helden bleibt sentimental mit "Halt Dich an Deiner Liebe fest" (vom Album "Wenn die Nacht am tiefsten", 1975). Fast Rammstein-wütend dagegen Joachim Witt mit dem zwanzig Jahre alten Rechenschaftsbericht "Wo sind wir jetzt" (vom Album "Scherben", 1983). Natürlich fehlen auch die großen Hits nicht: Ferris MC intoniert den "König von Deutschland", die Familie Schlegl erkennt immer noch und wieder, dass "Alles Lüge" ist. Und Marianne Rosenberg wartet mit der etwas trägeschleppend eingespielten, von Emma schon gelobten Liebeshymne "Für Immer Und Dich" auf. Fettes Brot definieren "Ich bin müde" (vom Album "Am Piano II", 1999) neu - mit fast Udo-Lindenbergschem Schalk im Nacken. Nach dem Genuss dieses Albums, das an keiner Stelle eine historisierende Verbeugung vor dem großen Reiser-Meister ist, sondern seine Stücke sehr souverän in die Echtzeit übersetzt, fehlen einem neue Ideen und musikalischen Eskapaden des komisch-traurig-harten Barden darum sogar noch mehr. In besagtem taz-Interview sagt der Reporter an einer Stelle: "Mir tut der Mensch, der da singt, leid." Und Rio antwortet: "Das kannste dir sparen, so schlimm ist es nicht."

"Familienalbum" Release: 27.10.2003 Label: Safety Records - Mit Sicherheit Musik GmbH Vertrieb: edel records

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