Neu im Kino: "Sieben Mulden und eine Leiche":Die Reste von Mutter

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Empfindsame Naturen mögen sich doch bitte lieber Filme über Flüchtlinge ansehen als diesen Horror-Movie in Sachen Familie: Ein TV-Journalist filmt die vermüllte Wohnung, in der seine Mutter verweste.

Martina Knoben

So herzerfrischend pietätlos war lange kein Dokumentarfilm mehr. Was wurde nicht schon diskutiert über die Grenzen des Kinos, darüber, was die Kamera zeigen darf und was besser nicht. Man hört förmlich Thomas Haemmerli lachen im Off über solche Empfindsamkeiten - dieses grimmige, leicht hysterische Lachen, wie es auch in seinem Film oft zu hören ist. Der Dildo der Mutter? Wird feixend in die Kamera gehalten. Das Familiensilber, verrottend im Garten? Zum Brüllen! Berge von Glühbirnen, genug für ein ganzes Menschenleben? Hahahaha!

Die verwüstete Wohnung der Mutter. (Foto: Foto: dpa)

Es gibt verschiedene Arten, sich die Zumutungen des Lebens vom Leib zu halten. Die Mutter häufte Dinge an, bis die Wohnung einer Müllhalde glich. Thomas Haemmerli, der nach ihrem Tod zusammen mit seinem Bruder diesen Müllhaufen aufgeräumt und einen Film darüber gemacht hat, hält das Unerträgliche auf seine Weise in Schach: Er nennt seinen Film eine Dokukomödie und gibt ihm einen beschwingten Titel: "Sieben Mulden und eine Leiche" - erinnert das nicht an "Sieben Hochzeiten und ein Todesfall"?!

Gnadenlos produktiv

Um eine Vorstellung von diesem Film zu bekommen, muss man sich jedoch einen vermutlich kaum erträglichen Leichengestank vor Augen führen, der die Dreharbeiten begleitet hat. Besucher der Horrorwohnung halten sich Taschentücher vor die Nase, ein professioneller Entsorger betritt sie gar nur mit Gasmaske und Schutzanzug. Haemmerli hatte seine Zuschauer gewarnt: Empfindsame Naturen möchten sich doch bitte Filme über Flüchtlinge oder Bergler ansehen!

Dass es in seinem Film hardcore zur Sache geht, demonstriert er gleich zu Beginn mit einer Splatter-Szene: Was da in Nahaufnahme mit einem Messer vom Boden abgekratzt wird, sind die stark verwesten Überreste seiner Mutter!

Dieses Bild ist obszön, und so schamlos wird der Film weitergehen. Andererseits ist die Gnadenlosigkeit, mit der Haemmerli seiner Mutter und deren Biographie begegnet, durchaus produktiv. In einer Zeit, da die Familie wieder verklärt wird als letzter Ort der Sicherheit, schleift er diese Bastion erbarmungslos. Und hat ja auch allen Grund, dieser Institution zu misstrauen und den sentimentalen Bildern, die sie produziert: Was Eltern ihren Kindern hinterlassen, kann furchtbar sein.

Die Super-8-Aufnahmen und Fotografien der Mutter, die er beim Aufräumen findet, nutzt Haemmerli zu einer skizzenhaften Rekonstruktion seiner Familiengeschichte, und die ist gespickt mit Heuchelei und Betrug, Verleumdungen und Verdächtigungen - ein unappetitlicher Höhepunkt sind Details aus der Scheidungsverhandlung der Eltern.

Bloßgestellt werden damit nicht nur die Eltern, sondern vor allem das alte Schweizer Scheidungsrecht, das eine Klärung der "Schuldfrage" verlangt hatte. Wenn Haemmerli krampfhaft die Zerstörung des mütterlichen Erbes zelebriert, stehen Wut und Trauer des Regisseurs dem Film schließlich doch im Wege, verhindern, dass aus dem schnellen, harten Home-Movie mit sehenswerter DV-Optik ein wirklich großer Dokumentarfilm wird.

In seinen besten Momenten aber führt der Film weit über das private Familienchaos hinaus, wird Mutters Sammlung zur Fundgrube für den Ethnologen. Auf einigen Familienfotos ist sie übrigens mit Kofi Annan zu sehen, den damals noch keiner kannte. Für die feine Schweizer Gesellschaft war er deshalb immer nur "där Näger".

SIEBEN MULDEN UND EINE LEICHE, CH 2007 - Regie: Thomas Haemmerli. Kamera: Thomas Haemmerli, Ariane Kessissoglou, Erik Haemmerli. Neue Visionen, 84 Minuten.

© SZ vom 17.4.2008/rus - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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