Netzkolumne:Lerne sehen wie die Maschine

Eine Kamera nimmt auf, ein Computer interpretiert. Heute werden Bilder von Maschinen für Maschinen erzeugt. Es ist befremdlich, wie Autos schauen.

Von Michael Moorstedt

Die Bundespolizei bittet um Mithilfe der Bevölkerung: Am Berliner Bahnhof Südkreuz sucht man Freiwillige, die ihre Gesichter für eine intelligente Videoüberwachung zur Verfügung stellen. Automatische Identifizierung, Mustererkennung, solche Dinge. Die Behörde ist damit kein Vorreiter. Die Deutsche Post und die Supermarktkette Real stellen in mehr als 100 Filialen ihren Kunden mit einer ähnlichen Technik nach, freilich nicht zur Terror-Abwehr, sondern für ihr Marketing. Eine Software erfasst Geschlecht und Alter und spielt passgenaue Werbung auf einen in der Nähe platzierten Monitor. Die beiden Unternehmen haben sich dafür in der vergangenen Woche eine Anzeige von Datenschützern eingehandelt.

Ob man es will oder nicht, diese Art von automatisiertem Erkennen kommt immer häufiger zum Einsatz. Kennzeichen-Scanner und Gesichtsanalysesysteme gehören ebenso dazu wie die zahlreichen Sensoren mit denen sich autonome Autos durch die Straßen tasten oder die Bilderkennungsalgorithmen der großen Internetkonzerne wie Facebook oder Google. Deren Technik wird immer präziser. Google etwa hat vor kurzem verkündet, dass seine Bilderkennungssoftware Lens mittlerweile zuverlässiger angeben kann, was auf Fotos zu sehen ist, als es ein Mensch könnte.

Eine Kamera nimmt auf, ein Computer interpretiert. Heute werden Bilder von Maschinen für Maschinen erzeugt. Der Rechner muss die Bilddatei nicht in eine für Menschen lesbare Form bringen, um sie zu verarbeiten. Der Mensch ist nur noch Zeuge des Prozesses. Die Milliarden an Fotos, die täglich auf die sozialen Netzwerke hochgeladen werden, sind für die Algorithmen das gerne genommene Trainingsmaterial.

45 Prozent Angst und 0,001 Prozent Abscheu meinten die Rechner erkannt zu haben

Doch Computer sehen anders als wir. Das Laser-Radar eines selbstfahrenden Autos erzeugt zum Beispiel kein direktes Abbild der Wirklichkeit. Wenn man dessen Daten visualisiert, erscheinen sie als neonfarbene Linien und Wellen, die mit unserer Weltwahrnehmung kaum etwas zu tun hat. Entsteht durch das künstliche Sehen auch eine neue Ästhetik, fragt schon eine ganze Reihe von Künstlern.

Der Fotograf Trevor Paglen versucht, diese Bilder wieder sichtbar zu machen und die Diskrepanz zwischen menschlichem und maschinellem Sehen zu verdeutlichen. Für seine Multimedia-Installation "Sight Machine" hat er den Auftritt eines Streichquartetts gefilmt und live von mehreren KI-Algorithmen analysieren lassen. Das Resultat wurde auf eine große Leinwand hinter der Bühne projiziert. Es ergab sich ein geisterhaftes Schauspiel. Mal sahen die Musiker aus wie abstrakte Negative ihrer Selbst, dann wieder wie Strichmännchen, gemalt in Fehlfarben. Am unteren Bildschirmrand wurde live ihre Gefühlslage eingeblendet - oder zumindest das, was die Computer anhand der menschlichen Gesichtszüge meinten erkennen zu können. 45 Prozent Angst und 0,001 Prozent Abscheu, stand dort zu lesen.

Die Visualität der Maschinen stellt aber nicht nur eine ästhetische Herausforderung für Menschen dar. Sie ist stets auch Ausdruck von Machtprozessen. Egal ob Bundespolizei oder Supermarktkette: Bilder haben in immer mehr Entscheidungsprozessen ein immer größeres Gewicht und sind zugleich immer weniger sichtbar. Um in dieser Welt noch mithalten zu können, so Paglen, muss der Mensch lernen, wie eine Maschine zu sehen.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: