Netzkolumne:Das war das Jahr 2017?

Von der Kurznachrichten- bis zur Pornoplattform liefert jedes Onlineportal jetzt seine Bilanz der vergangenen zwölf Monate. Besonders bizarr ist das "Rewind-Video" von Youtube.

Von Michael Moorstedt

Vielleicht wird 2017 einmal das Jahr sein, von dem man sagen wird, dass es ernst wurde im Internet. Metastasierende Fake-News und Hass-Kommentare, der freie Zugang zu Informationen am seidenen Faden, stattdessen staatliche Überwachung ab Werk. Überall schlechte Stimmung also - nur nicht auf Youtube. Zumindest in dessen offiziellem Jahresrückblick.

Von Anfang Dezember an wimmelt es im Netz von Statistiken, Bestenlisten und Tabellen, die vorgeben, aus all den Befindlichkeiten und Produktivitätssignalen, die in den vergangenen zwölf Monaten so in den Äther hinausgeblasen wurden, ein repräsentatives Bild zu zeichnen. Von der Kurznachrichten- bis zur Pornoplattform liefert so gut wie jedes Onlineportal seine Bilanz.

Die Bilanzen der großen sozialen Netzwerke sind völlig entrückt

Notorisch ist das sogenannte Rewind-Video von Youtube. Es ist ein Frontalangriff auf Auge und Ohr. Zuschauer, die noch im vorigen Jahrtausend geboren worden sind, werden nur einen Bruchteil der Menschen und Meme, der Zitate und Remixe erkennen, die da durchs Bild flitzen.

Die Leute, die im Übrigen alle fabelhaft und nicht im Geringsten wie Amateure aussehen, bewerfen sich mit Schleim, kämmen sich die Haare im Rudel und führen allerhand anderen Schabernack auf. Außerdem ist eine Giraffe zu sehen. Nur einmal, bei Minute dreieinhalb wird es kurz ernst, das Gedudel wird gedimmt, und man hört leise Stimmen, die von Explosionen und Erdbeben sprechen. Der Ausnahmezustand verkommt zu einem weiteren Sample. Doch dann wird sich an den Händen gefasst, gelächelt und schon geht - zumindest im Video - wieder die Sonne auf.

Das Video läuft unter dem Titel "The Shape of 2017" und ist so abgehoben, so entrückt von den tatsächlichen Vorgängen in der Welt, dass man ungläubig zurückbleibt, wenn der letzte Ton verklungen ist. Ziemlich mager für ein Unternehmen, das für sich beansprucht, so etwas wie das visuelle Gedächtnis der Menschheit zu sein.

Sieht man sich die Bilanzen der anderen großen sozialen Netzwerke an, kann man einen Trend erkennen: Auch auf Twitter regiert der Klamauk, und Instagram bietet eine Wohlfühlveranstaltung, wie sie auch Jauch und Lanz bieten. Die populärsten Hashtags lauten nicht #metoo, #charlottesville oder #womensmarch, sondern #love, #happy und #beautiful.

Auf Facebook sieht der Rückblick auf 2017 schon realitätsnaher - und also deprimierender - aus: Wirbelstürme, Attentate auf Popkonzerte, verzweifeltes Verlangen nach mehr Menschenrechten. Aber was hat das soziale Netzwerk eigentlich damit zu tun? Das Unternehmen versucht in einer rhetorischen Verrenkung, dem Ganzen einen positiven Spin zu verleihen. Indem nämlich behauptet wird, dass Facebook heute der Ort sei, an dem die Menschen in außergewöhnlichen Zeiten "zusammenkommen, um einander zu unterstützen". Glaubt man der Eigenwerbung, hat Mark Zuckerberg nun also auch ein Monopol auf Mitgefühl.

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