Netz-Depeschen:Unser Leben in Bits und Bytes

Hoffnungen, Wünsche, Träume, Fotos vom letzten Urlaub oder der Tod eines Freundes. Im Netz lassen sich dank Facebooks Timeline ganze Biografien digital aufbereiten. Aber was löst es im Nutzer aus, wenn er sein Leben kuratieren muss?

Michael Moorstedt

An das erste Mal, dass ihr Freund "Ich liebe dich" sagte, kann sich Rebecca Armendariz nicht mehr erinnern. Sie weiß jedoch ganz genau, wann er es das erste Mal geschrieben hat. Am 3. Oktober 2007 in einer ansonsten recht banalen E-Mail. Clark, ihr Freund, starb zwei Jahre darauf an Krebs und seitdem versucht Armendariz ihr Leben zu ordnen. Sie tut das am Rechner. Mit gnadenloser Servilität präsentiert ihr Googlemail, wie sich Hoffnungen, Wünsche und Träume in langen Konversationen etabliert haben und dann von der Krankheit weggewischt wurden, schrieb sie im Herbst auf der Website des Good-Magazins.

Facebook Chronik-Ansicht in Deutschland gestartet

Facebooks Timeline: Das ganze Leben digitalisiert.

(Foto: dpa)

Chat-Logs, nicht mehr befüllte Blogs und durchsuchbare E-Mail-Archive sind schon lange zu anerkannten Mitteln der Identitätskonstruktion geworden, eben so, wie es früher Fotoalben und Tagebucheinträge waren. Glaubt man Mark Zuckerberg, wird es in Zukunft noch einfacher sein, das eigene Leben in einer digitalen Chronik abzuspeichern und zu ordnen.

Die Lösung nennt sich Facebook-Timeline. Bislang war die Option nur für Entwickler freigeschaltet, seit kurzem ist sie allen Nutzern zugänglich. "Erzähle deine Lebensgeschichte", wird man mit der üblichen 2.0-Neugierde aufgefordert. Die neue Zeitleiste soll bisherige Posts des Users besser erschließen. Eine Grafik, überlagert mit dem Profilbild, dominiert die Darstellung. Darunter sieht man, chronologisch in zwei vertikalen Spalten an einem Zeitstrahl aufgereiht, die Einträge des Nutzers.

Jetzt wissen die Freunde mit zwei Mausklicks, was man letzten Sommer getan hat. Sehen, wie viele Kontakte in einem Jahr hinzugefügt wurden und welche Einträge die meisten "Likes" eingeheimst haben.

Was löst es in den Nutzern aus, wenn sie mit hunderten kleinen Entscheidungen konfrontiert sind, wie ihr Leben im Netz abgebildet werden wird? Welches Ereignis wird verschwiegen und welches umso prominenter in der Timeline abgebildet? Wenn die Option ausgewählt ist, lässt einem das System sieben Tage Zeit, bis das Profil in der neuen Optik zu sehen ist. Sieben Tage, in denen man das eigene Leben möglichst im hellsten Glanz ausleuchten soll.

So kann der moderne Egotaktiker aus vorkonfigurierten, sogenannten Lebensereignissen - von "Knochenbruch" bis "Neues Familienmitglied" - auswählen, er kuratiert seine Biographie, löscht Kommentare, verbirgt Statusupdates oder entfernt eine Verlinkung zu einem peinlichen Foto.

Die Überstilisierung der eigenen Biographie-Meilensteine hat auf sozialen Netzwerken eine lange Tradition. Denn was ist jedes Update, jedes Video oder Link anderes, als ein Heischen nach Aufmerksamkeit, eine Aufforderung zur Assoziation, eine Bitte um einen klugen Gedanken?

Das Dasein auf sozialen Netzwerken ist ein Wettkampf um Affirmations-Klicks. Glühende Romanzen, einen Schritt auf der Karriereleiter, ein Tag am Meer - am Ende bleiben nur die besten Momente. Die Biographie-Optimierung geht so weit, dass der Businessweek-Autor Brad Stone twitterte, die Timeline sei der "Beweis, dass niemand auf Facebook unter Gewichtsproblemen oder Haarausfall leide und nie eine Scheidung erleben musste".

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