Netz-Depeschen:Sind wir nicht alle ein bisschen Guttenberg?

Zitieren ist keine leichte Sache. Schon gar nicht in Zeiten des Internets: Der Online-Siegeszug eines vermeintlichen Martin Luther King Zitats.

Niklas Hofmann

Ich betrauere den Verlust tausender kostbarer Leben, aber ich werde den Tod keines einzigen bejubeln, nicht einmal den eines Feindes." Wer einmal, vielleicht in vielen Jahren, auf diese Worte als ein Zitat Martin Luther Kings stößt, der sollte an Jessica Dovey denken. Dovey, eine 24-jährige College-Absolventin aus Pennsylvania, derzeit Englischlehrerin in Japan, hat nämlich ganz unversehens den Mahlstrom der Vervielfältigung im nie endenden Bewusstseinsstrom des Internets losgetreten. Dovey hat (ganz ohne Absicht) Reverend King gefälscht.

40. Todestag Martin Luther King

Falsche Zuschreibungen machen einen großen Teil unseres Zitatenschatzes aus: Ganz unfreiwillig wurde Martin Luther King von einer Internet-Userin falsch zitiert.

(Foto: dpa)

Die junge Frau hatte, als sie im fernen Japan in ihr iPhone blickte, angesichts der johlenden Reaktionen in ihrer Heimat auf die Tötung Osama bin Ladens ein ungutes Gefühl beschlichen. Und so beschloss sie am vergangenen Montag, auf ihrem Facebook-Profil an Worte von Martin Luther King zu erinnern, der davon sprach, wie wichtig es sei, dem Hass mit Liebe zu begegnen. Kings Zitat stellte sie ein paar eigene Worte voran, eben jene anfangs zitierten.

Wenn Dovey die Wahrheit sagt, dann lag ihr jede Täuschungsabsicht fern: Kings Zitat setzte sie in Anführungsstriche. Dann aber begann die große Verbreitungsmaschine Internet ihre unerbittliche Arbeit. An welcher Stelle genau die Gänsefüßchen verloren gingen, ist wohl nicht mehr genau zu rekonstruieren. Fest steht, dass Jessica Doveys Worte bei vielen Lesern einen Nerv trafen. Zwar hatte sie sie nur für den Zirkel ihrer Facebook-Freunde geschrieben. Aber ein einziges Reposting genügte ja, um es aus diesem Kreis herauszutragen.

Es war ein in den USA bekannter Zauberkünstler, der das vermeintliche Martin-Luther-King-Zitat als erster bei Twitter verwendete, wo der Mann 1,6 Millionen Follower hat. Nun war sein Siegeszug nicht mehr aufzuhalten. Schon nach wenigen Stunden schien Doveys Satz zu einem kanonischen King-Zitat geronnen zu sein, er tauchte zigtausendfach in Blogs, Online-Magazinen und auch in Zeitungen wie dem Philadelphia Inquirer auf. Bis zur Stunde werden die Zeilen auch im deutschsprachigen Teil des Netzes noch immer gerne zitiert.

Die Journalistin Megan McArdle vom Magazin Atlantic war noch am selben Tag offenbar die erste, die das Zitat als falsch enttarnen konnte. Ihr Kollege Alexis Madrigal präsentierte am Dienstag ein Interview mit Dovey, deren Reaktion zwischen Verdatterung, peinlichem Berührtsein und stillem Stolz zu changieren schien.

Nun ist das Phänomen des apokryphen Zitats kein Kind des Internetzeitalters. Falsche Zuschreibungen machen einen großen Teil unseres Zitatenschatzes aus. Man denke an den angeblichen Churchill-Spruch "Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast", der in der englischsprachigen Welt nicht ohne Grund ganz unbekannt ist. Ein besonders ergiebiges Studienobjekt sind auch die unzähligen Versionen, die von den Worten Martin Niemöllers ("Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen ...") kursieren, und bei denen nach Lust, Laune und politischer Opportunität die Opfergruppen in ihrer Reihenfolge vertauscht oder neue frei hinzuerfunden werden.

Im Netz jedoch kann man die Entstehung einer Fama wie dieser heute in Echtzeit verfolgen, ein Effekt, der auch zu den charakteristischen Erfahrungen in den Sozialen Netzwerken wie Facebook gehört, wo sich ja stets auch die gegenseitige Ansteckung mit Witzen, Meinungen oder der Vorliebe für irgendwelche Online-Videos live miterleben lässt. Das Dovey-King-Zitat ist und bleibt nun in der Welt. In den Kommentarspalten des New Yorker hat ein Leser dazu das passende Zitat gefunden: "Das Problem damit, Zitaten aus dem Internet zu vertrauen, liegt darin, dass das Internet voller Lügen und Ungenauigkeiten ist." Gesagt hat das offenbar Abraham Lincoln, im Jahre 1864.

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