Netz-Depeschen:Idee und Wirklichkeit

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Zwischen dem Schloss von Versailles und der Chinesischen Mauer: Die Macher hinter Wikipedia wollen nichts Geringeres, als das Online-Lexikon auf der Unesco-Liste des Weltkulturerbes platzieren. Dabei sind sich nicht einmal alle Wikipedianer sicher, ob die Idee der Mitmach-Seite für alle wirklich schon umgesetzt wurde.

Niklas Hofmann

Sie meinen das nicht nur ernst, sie nehmen es auch so. Beim Verein Wikimedia Deutschland hat der Bereich "Weltkulturerbe" jedenfalls schon einen eigenen Projektmanager. Denn Unesco-Weltkulturerbe will das kollektiv erstellte Online-Lexikon Wikipedia werden, will sich also einreihen zwischen dem Schloss von Versailles und der Chinesischen Mauer. Für die Idee des deutschen Wikimedia-Vereins konnten inzwischen auch die Trägervereine aus anderen Nationen und vor allem Jimmy Wales begeistert werden.

Das Online-Lexikon Wikipedia ist kein physischer Ort, und fällt schon darum eigentlich aus allen Begriffen des von der Unesco geschützten Kultur- und Naturerbes heraus. Darum sollen Idee und Wesenskern der Wikipedia geschützt werden, also die kollaborative, frei zugängliche Wissenssammlung. (Foto: ddp)

Wales, als Mitgründer der Wikipedia nach wie vor international ihr Gesicht, hat ein Video aufgenommen, in dem er um Unterstützung für eine Online-Petition wirbt, an der sich bislang 12.000 Internetnutzer beteiligt haben.

Die Zeiten, in denen echte oder vermeintliche Eliten über Wikipedia nicht anders als mit gerümpfter Nase sprachen, sind längst vorbei. Im Jahr 2011 bekennt sich der Redaktionsleiter eines öffentlich-rechtlichen Senders emphatisch zu der Bereicherung, die das Online-Lexikon für den Arbeitsalltag seiner Journalisten bedeutet.

Pavel Richter, der deutsche Wikimedia-Geschäftsführer, möchte aber partout Wikipedia auch als "ein Meisterwerk der menschlichen Schöpfungskraft" gewürdigt sehen.

Dieses Kriterium aus der Weltkulturerbe-Charta der Unesco soll der Hebel sein - denn mit allen anderen tut man sich etwas schwer. Wikipedia ist kein physischer Ort, und fällt schon darum eigentlich aus allen Begriffen des Kultur- und Naturerbes heraus. Darum sollen Idee und Wesenskern der Wikipedia geschützt werden, also die kollaborative, frei zugängliche Wissenssammlung.

Nun hat die Unesco mit den Konventionen zum immateriellen Kulturerbe und zum Dokumentenerbe zwar zwei andere Schutzkategorien geschaffen, denen die Wikipedia ebenfalls nicht hundertprozentig, aber doch wohl etwas leichter gerecht werden könnte. Doch man will ganz klar ins klassische Weltkulturerbe: Das eine sei schließlich wie Bundesliga, das andere so etwas wie die zweite und dritte Liga, meinte in Berlin der Rechtsanwalt Till Kreutzer, Mitglied der Deutschen Unesco-Kommission, und offenkundiger Freund einer Wikipedia-Bewerbung.

Die Kulturerbe-Expertin Britta Rudolff hielt dagegen, es sei doch eher wie Fußball, Handball und Volleyball. Und wer eine tolle Handballmannschaft habe, trete damit doch auch besser nicht in der Fußballbundesliga an.

Es geht den Wikipedianern um Anerkennung für eine beeindruckende Gemeinschaftsleistung und Aufmerksamkeit für einen kulturellen Wandel: Warum die nun unbedingt über das Weltkulturerbe erfolgen muss, und nicht beispielsweise über den Friedensnobelpreis, scheint eher nebensächlich. Wenn die Kriterien der Unesco nicht passen, dann lädt Richter die Unesco eben ein, ihren Kulturbegriff zu überdenken.

Auch Linus Neumann von der neuen Internetnutzerlobby "Digitale Gesellschaft" meint, das bisherige Welterbe schütze nur "Symbole für die Schaffenskraft weniger" und repräsentiere eine "Top-Down-Kultur". Das ist zwar weder mit den Welterbetiteln für ganze Städte und Kulturlandschaften noch mit den bislang anerkannten Beispielen des immateriellen Kulturerbes unter einen Hut zu bringen, lässt aber die Wikipedia-Bewerbung geradezu als zwingenden Akt der demokratischen Emanzipation erscheinen.

Erfrischenderweise waren es in Berlin gerade Wikipedianer aus dem Publikum, die den Weihrauch, der auf dem Podium um die Einzigartigkeit des Lexikons verbreitet wurde, etwas wegbliesen: Dass jeder bei Wikipedia mitmachen könne, ganz unabhängig von seiner formalen Qualifikation, wie es Richter auf dem Podium beschworen hatte, das sei "sozialromantischer Unsinn", war eine der Einwände.

Schließlich seien die Beitragenden - übrigens kein Millionenheer, sondern etwa zehntausend Menschen, Tendenz sinkend - überwiegend Akademiker, die jeden ausschließen würden, der nicht auf ihrem Diskussionsniveau mithalten könne.

Wenn man also wirklich Idee und Prinzip der Wikipedia für schützenswerte Errungenschaften der Menschheit hält, dann stellt sich die Frage, ob die real existierende Wikipedia dafür hier und heute überhaupt das beste Beispiel ist. In Berlin sagte Ralf Müller-Schmid, er sei sehr dafür die Wikipedia zum Weltkulturerbe zu machen - aber frühestens in 100 Jahren.

© SZ vom 06.06.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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