Neil Diamond in München:Letzte Ausfahrt Brooklyn

Bei all ihrem Pomp wurden die Songs von Neil Diamond immer von ihrem Heimweh getragen. Nun hat er sein Repertoire um puristischere Stücke erweitert und ist damit zumindest in seiner Musik heimgekehrt.

Andrian Kreye

Die hohe Kunst des Entertainments besteht darin, das Publikum einen Abend lang in unregelmäßigen Abständen von den Stühlen zu reißen und dazwischen mit Balladen zu Tränen zu rühren.

Wenn es im Pop nur so einfach geblieben wäre. Ist es aber nicht. Deswegen stellt Neil Diamond die größte Herausforderung dar, die dem Produzenten Rick Rubin bisher begegnete. Denn Rubin will seit rund 15 Jahren nichts anderes, als die Naturgesetze des Pop überwinden und in der kurzlebigsten aller Kunstformen einen unsterblichen Kanon schaffen.

Einmal ist ihm das schon gelungen, als er den fast vergessenen Countrysänger Johnny Cash in den neunziger Jahren in eine amerikanische Ikone verwandelte.

Nie ein Popmusiker

Streng genommen war Cash natürlich nie ein Popmusiker, und das Alterswerk, das Rubin ihm produzierte, war lediglich die Wiederentdeckung des wahrscheinlich größten Geschichtenerzählers der amerikanischen Musik.

So einfach geht das mit Neil Diamond nicht. Denn der galt in einer Popkultur, die seit 40 Jahren vom Machogestus des Rock und der immerwährenden Suche nach der subkulturellen Authentizität der Hipness bestimmt wird, seit ebenso vielen Jahren als Treppenwitz der Musikgeschichte.

Diamonds Gesten waren immer schon ein bisschen zu groß, sein Pathos war zu dramatisch, seine Arrangements waren zu gefällig, um den Ansprüchen des Hip und Cool zu genügen.

Diese Sorte Musik gehört nach dem vorherrschenden angelsächsischen Popverständnis in die mediterranen und hispanischen Kulturkreise, in denen man keine Berührungsängste vor emotional aufgeladener Schlichtheit hat. Deswegen brauchte es schon einen Mann mit dem Musikgespür eines Rick Rubin, um hinter all dem Pomp einen der größten amerikanischen Songschreiber herauszuhören.

Ein Platz neben Presley, Cash und Dylan

Den Mann, der in den frühen sechziger Jahren sein Handwerk in der New Yorker Hitfabrik des Brill Buildings gelernt hat, der aus der Folkszene des Greenwich Village verstoßen wurde, weil seine bürgerliche Abneigung gegen Hippies und Drogen nicht zum Zeitgeist passte, und der doch Hunderte Songs geschrieben hat, die heute zum Standardrepertoire des Pop gehören - auch wenn kaum jemand weiß, dass sie von Diamond stammen.

Rubin plant, Diamond aus den Tiefen des internationalen Schlagers in den Pantheon des amerikanischen Pop zu holen, in dem er einen Platz neben Elvis Presley, Johnny Cash und Bob Dylan einnehmen soll.

Dabei geht er geradezu archäologisch vor. In der Abgeschiedenheit seines Studios befreite Rick Rubin den Sänger für seine letzten beiden Alben von allem instrumentalen Ballast und aller modischen Elektronik, bis über den minimalistischen Akustikgitarren und sparsamen Instrumentierungen Diamonds Bariton zu neuer Größe fand.

Zum ersten Mal auf Platz eins

Und plötzlich klingt dieser so spröde und gebrochen wie zuvor schon Johnny Cashs Bass. Doch ist das nur Pose? Liegt der große Unterschied nicht in der Lebensgeschichte und Weltsicht der beiden Sänger und die Ähnlichkeit lediglich in der Vision eines überdominanten Produzenten?

Vergangene Woche landete Neil Diamond mit seiner puristischen neuen Platte "Home Before Dark" zum ersten Mal auf Platz eins der amerikanischen Albumcharts. Das war Rick Rubins Verdienst. Am Dienstag begann Diamond den deutschen Teil seiner fast ausverkauften Europatournee. Da aber spielte er für sein Stammpublikum Hits wie "Sweet Caroline", "Beautiful Noise" oder "I'm A Believer" im gewohnten Format orchestraler Arrangements.

Auch die Taschenspielertricks des Schlagers streute er großzügig und mit größtmöglichem Effekt ins Repertoire. Dazu gehört es vor allem, den Refrain gegen Ende eines Stückes immer aufs Neue zu wiederholen, dabei um einen Halbton nach oben zu transponieren und so Inbrunst vorzutäuschen. Oder auch, den synkopierten Viervierteltakt des Pop zu einer zweivierteltaktigen Polka zu reduzieren, was umgehendes Schunkelbedürfnis auslöst.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, wie Diamond das Eis zwischen ihm und dem Publikum endgültig brach.

Letzte Ausfahrt Brooklyn

Bei seinem neuen Publikum aus den Generationen, die mit Rockmusik aufgewachsen sind, könnte er sich das nicht erlauben. Aber der Sponsor seines Münchner Konzertes war eben der Schlager- und Volksmusiksender Bayern 1. Für sein Stammpublikum wären die puristischen Songs aus der Rubin-Werkstatt auch einfach zu spröde.

Und doch ist der Neil Diamond, der in der Olympiahalle dieses Stammpublikum verzückte, ein anderer als der, der sich vor drei Jahren auf seiner Amerikatournee für seine neuen, puristischen Versuche fast entschuldigte.

Die Eiskunstläuferkostüme sind verschwunden

Diesmal fügten sich die Stücke ohne große Band, die er damals noch als "Unplugged"-Einlagen dazwischenschob, nahtlos ins Programm. Die Eiskunstläuferkostüme sind verschwunden. Mit seiner schwarzen Hose, dem schwarzen Westernhemd und dem blaugrauen Jackett entzog sich Neil Diamond schon rein optisch der Einordnung in den Showglamour von Las Vegas und dem Broadway.

Schmaler ist er geworden, man sieht ihm an, wie die letzten Jahre an ihm gezehrt haben. Auch die großen Gesten sind bescheidener geworden. Da manifestiert sich der klassische Songschreiber, den Rubin in ihm gefunden hat. Das aber scheint ihm Sicherheit gegeben zu haben. Denn wie souverän er als Entertainer agiert, zeigte eine technische Panne nach dem dritten Song.

Auf einmal fielen die drahtlosen Ohrhörer aus, die Sänger heute auf der Bühne tragen, um ihre eigene Stimme zu hören. Diamond bat seinen Assistenten auf die Bühne, der nun minutenlang an dem Sänger herumnestelte. Der überbrückte die Pause mit jenem Geplauder, das beiläufig wirkt, aber das Publikum unwiderstehlich auf die Seite des Stars ziehen kann.

Unnachahmliche Lässigkeit

Dabei erinnerte Diamonds Sprache in Diktion und Tempo an Monologe des älteren Jack Nicholson. Da verschleppt die Sprache um Sekundenbruchteile, was ähnlich wie der Backbeat eines versierten Jazzmusikers eine unnachahmliche Lässigkeit vermittelt - und gleichzeitig die Ruhe eines Mannes, der es gewohnt ist, das Tempo seiner Welt selbst zu bestimmen.

Als dann irgendjemand aus den Rängen "Sweet Caroline" ins Dunkel der Halle rief, schlug Diamond mit freundlicher Geste die dazugehörigen Akkorde an, gab seiner Band einen Wink, und schon tobte das Publikum zu dem größten seiner Hits, den er sich normalerweise als Zugabe aufhebt. Das Eis war endgültig gebrochen, und so wirkte die Zwangspause so souverän, als wäre die Panne inszeniert. Auch das ist großes Entertainment. Doch es sollte noch ein paar Songs dauern, bis Diamond die emotionale Dreierwette seines Repertoires ausspielte, die zeigte, was Rick Rubin in ihm sieht.

Da spielte er "Brooklyn Roads", seine Erinnerungen an die Kindheit im jüdischen Kleinbürgerviertel Flatbush, gleich darauf "I Am, I Said", das Lamento über sein Heimweh nach New York, das ihn in Los Angeles so plagt, und seine Ode an die Einsamkeit "Solitary Man".

Lebenslanges Heimweh

Es ist dieses Heimweh, das Diamonds Songs all die Jahre getragen und das sie trotz der gefälligen Arrangements immer über die platte Anbiederei des Schlagers erhoben hat.

Sicher, Neil Diamond leidet nur unter dem Luxusproblem all jener Stars, die in ihren Villen in Malibu und Beverly Hills plötzlich merken, dass es dort unendlich langweilig und einsam ist. Doch er verstand es immer, diese Sehnsucht des Erfolgreichen nicht in Larmoyanz abgleiten zu lassen, sondern in Songs zu verpacken, in denen ein Millionenpublikum diese Sehnsucht für sich selbst nachvollziehen kann. Das aber ist nicht die Gaukelei des Entertainers, auf die sich Diamond so gut versteht, sondern die hohe Kunst des Songschreibens. Und genau da setzte Rick Rubin an.

Leicht hat es Neil Diamond seinem neuen Produzenten ja nicht gemacht. Über ein Jahr lang hat Rubin dem Star Nachrichten auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, bis der endlich bereit war, sich mit ihm zu treffen. Jetzt muss ihm Diamond dankbar sein. Nicht nur für seine erste Nummer eins in den Albumcharts.

Als Neil Diamond den Titelsong anspielt, eine klassische Folkballade, die einmal mehr vom Heimweh und von der Hoffnung auf die Katharsis der Heimkehr handelt, bricht seine Stimme ein paarmal aus dem Duktus der geschulten Popstimme aus. Da schlägt plötzlich der grobe Dialekt aus seiner Jugend durch, und die Endsilben verschleifen sich mit jener Nachlässigkeit in den Endvokalen, mit der man in Brooklyn und der Bronx zu sprechen pflegt. Zumindest in seiner Musik ist Neil Diamond also wieder heimgekehrt.

Weitere Konzerte in Deutschland: 29.5. Köln, 2.6. Hamburg

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