Neapel-Tetralogie von Elena Ferrante:Lila hat ihre Magie verloren

Snow on Vesuvio volcano in Naples

Die neapolitanische Saga ist ein Phänomen, weil sich hier literarische Qualität mit einem weltweiten Verkaufserfolg verbunden hat.

(Foto: dpa)

Trotzdem geht mit Elena Ferrantes Neapel-Reihe eines der erstaunlichsten literarischen Projekte des 21. Jahrhunderts zu Ende.

Von Martin Ebel

In der klassisch-romantischen Sinfonie fällt das Finale oft ab. Die Dynamik der Themenkonflikte hat sich entladen, das Material ist durchgearbeitet, für den letzten Satz bleibt da manchmal nur ein lärmender Rausschmeißer. Einen leicht enttäuschenden Eindruck hinterlässt auch "Die Geschichte des verlorenen Kindes", der Schlussband von Elena Ferrantes neapolitanischer Saga. In ihm führt die Autorin die ineinander verschränkten Lebensgeschichten der Ich-Erzählerin Elena und ihrer "genialen Freundin" Lila, die in den Fünfzigerjahren begonnen hat, bis über das Jahr 2000 hinaus.

"Reife" und "Alter" heißen die beiden Teile des mehr als 600 Seiten langen Romans, und am Ende ist man da, wo der erste Band begonnen hat: Lila ist verschwunden, hat alle ihre Lebensspuren getilgt; Anlass für Elena, der Selbstauslöschung zu widersprechen, sich ihrer gemeinsamen Geschichte zu vergewissern und jenes Werk zu verfassen, das wir jetzt, 2000 Seiten später, zu Ende gelesen haben.

Die neapolitanische Saga ist ein Phänomen, weil sich hier literarische Qualität mit einem weltweiten Verkaufserfolg verbunden hat, der längst nicht mehr mit dem Geraune um die hinter einem Pseudonym versteckte Identität der Autorin zu erklären ist.

In vier Bänden und über ein halbes Jahrhundert hinweg erzählt Ferrante eine Bildungs-, Aufstiegs- und Emanzipationsgeschichte (dazu auch eine Technikgeschichte und eine der Intellektuellen), die ihre Heldin Elena aus dem Elend des Rione, eines Armenviertels in Neapel, bis in akademische und literarische Höhen führt. Gleichsam en passant, aber immer mit den Biografien ihrer Figuren verknüpft, zieht die Entwicklung Nachkriegs-Italiens an den Lesern vorbei: wachsender Wohlstand, bleibende Korruption und mafiöse Durchdringung aller Lebensbereiche.

Die eine Frau ist ohne die andere nicht vorstellbar

Vor allem aber behandeln die vier Bände das überaus komplizierte Verhältnis von Elena und Lila. Es ist eine von Liebe und Hass, Anziehung und Abstoßung, Rivalität und Solidarität geprägte Beziehung, so intensiv ausgelebt und beschrieben und derart hart den Kern der Identität beider Frauen touchierend, dass die eine ohne die andere nicht vorstellbar ist und man ins Zweifeln kommt, ob sie überhaupt zwei verschiedene Wesen sind oder nicht vielmehr eines mit inkompatiblen Bestandteilen. Dieser Zweifel macht einen Teil der Magie des Romanvierteilers aus.

Die Schusterstochter Lila, begabt bis zur Genialität, muss nach der fünften Klasse von der Schule abgehen und projiziert ihr gewaltiges Potenzial, das sie nicht realisieren kann, auf die Freundin. Elena wiederum, strebsam, anpassungsfähig und gefallsüchtig, zweifelt trotz des sozialen Aufstiegs zutiefst an ihren Qualitäten, die sie einzig der Inspiration durch Lila zuschreibt. "Es geht immer nur um uns zwei", heißt es gegen Ende, "um sie, die will, dass ich das gebe, was zu geben ihre Natur und die Umstände ihr verwehrt haben, und um mich, der es nicht gelingt, das zu geben, was sie verlangt."

Leseprobe

Wir sind geneigt, Elena diese Einschätzung abzunehmen, einmal weil wir auf ihre Perspektive angewiesen sind, zum andern, weil die Romane jedes Mal schier zu glühen scheinen, wenn Lila auftritt: glanzvoll, kompromisslos, unberechenbar. Gelegentlich hat die Autorin in den vergangenen Bänden einen Blick in Lilas Inneres gestattet; dort lodert die Angst, dass sich alle Konturen auflösen, dass ihr der von allzu viel Eindrücken, Ideen und Fantasien gefüllte Kopf zerplatzt.

Es gibt wieder Szenen glühender Intensität, aber sie sind seltener

In diesem letzten Band versetzt einmal ein Erdbeben Elena in helle Panik. Danach erläutert sie der Freundin, dass die sichtbare Welt ihr wie ein Provisorium erscheine, kurz davor, sich in aggressive Einzelteile aufzulösen. "Erinnerst du dich an das Silvesterfest 1958, als die Solaras auf uns geschossen haben? Vor den Schüssen fürchtete ich mich nicht so sehr. Aber ich hatte Angst, dass die Farben des Feuerwerks scharf sein könnten, vor allem das Grün und das Violett waren messerscharf, dass die uns zerschneiden könnten, dass die Raketenschweife meinen Bruder Rino wie Feilen, wie Raspeln streifen und sein Fleisch aufreißen könnten, dass sie einen anderen, abstoßenden Bruder aus ihm heraussickern lassen könnten..."

Lilas Energie, die nicht nur ihre Freundin in Bann hält, sondern eine Zeit lang den ganzen Rione mitsamt den Mafiosi, wäre also der verzweifelte Versuch, die Auflösung der Welt durch unausgesetzte Aktivität aufzuhalten. Die Selbstauflösung, von der wir von Anfang an wissen, bedeutet dann auch die Aufgabe dieses Kampfes.

Am Schluss führt uns Elena Ferrante viele Gestalten ihres umfangreichen Romanpersonals wieder zu

Es gibt wieder Szenen glühender Intensität in der "Geschichte vom verlorenen Kind", aber sie sind viel seltener als in den vergangenen Bänden. Über weite Strecken dominiert Elenas raffende und resümierende Abhandlung ihrer privaten und beruflichen, alles in allem recht gewöhnlichen Kalamitäten. Sie hat sich, Ende des dritten Bandes, von ihrem Mann getrennt und mit Nino Sarratore eingelassen, ihrem Jugendschwarm, einem Opportunisten von oberflächlichem Charme, der Elena nun notorisch betrügt und sie mit ihren drei Töchtern (eine ist von ihm) im Stich lässt. Elenas Leben ist ein Auf und Ab, geprägt von der Doppel- und Dreifachbelastung einer Frau, die alles will: Familie, Liebhaber, künstlerische Selbstverwirklichung und gesellschaftlichen Erfolg.

Dass die Faszination des letzten Bandes nicht an die vorangehenden heranreicht, liegt aber vor allem daran, dass Lila ihre Magie verloren hat. Sie ist alt und verbittert geworden, eine zänkische, keifende Person, deren Autorität im Rione verblasst ist.

Am Schluss führt uns Elena Ferrante viele Gestalten ihres umfangreichen Romanpersonals wieder zu, die wir schon fast vergessen hatten; auch sie Opfer der Zeit, aufgedunsen, verkommen oder tot. Der grandiose Effekt von Prousts "Ballet des têtes" im Schlussband der "Recherche" stellt sich nicht ein. Aber natürlich ist das ein unfairer Vergleich. Elena Ferrante ist nicht der Proust unserer Zeit. Aber ihre Tetralogie gehört trotz der Schwächen des Finales zu den erstaunlichsten, ambitioniertesten und überzeugendsten literarischen Projekten des jungen 21. Jahrhunderts. Und Karin Krieger hat es trotz hohen Zeitdrucks bewundernswert elegant und stimmig übersetzt.

Elena Ferrante: Die Geschichte des verlorenen Kindes. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 614 Seiten, 25 Euro. E-Book 21,99 Euro.

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