Nazi-Worte im Sprachgebrauch:Mädel verpflichtet

Es gibt Worte, die man nicht benutzen sollte, weil sie politisch missbraucht wurden. Ein Sprachforscher erklärt, wer sie trotzdem benutzt - und warum die katholische Kirche ganz vorne dabei ist.

Ruth Schneeberger

Es taucht in der Werbung auf, gerne in Talkshows, zunehmend in Reportagen des Privatfernsehens, und sogar im Bekannten- und Kollegenkreis hat sich in den vergangenen Jahren ein Wort wiedereingebürgert, von dem es mal hieß, dass man es womöglich lieber nicht benutzen solle, weil es durch den Bund deutscher Mädel und die Jungmädel des Nationalsozialismus negativ konnotiert sei: Es ist das "Mädel".

Abgesehen davon, dass sich erwachsene Frauen möglicherweise erniedrigt fühlen, wenn sie von anderen Erwachsenen als "Mädel" tituliert werden, war der Bund deutscher Mädel 1944 die zahlenmäßig größte weibliche Jugendorganisation der Welt. Vor Jahren schien das noch ein Grund gewesen zu sein, das Wort zu verschmähen. Davon kann nun keine Rede mehr sein. Aus diesem Anlass ein Interview mit dem Düsseldorfer Sprachforscher Thorsten Eitz, der zusammen mit Georg Stötzel von der Uni Düsseldorf das "Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung" herausgegeben hat und sich mit dem Wandel des öffentlichen Sprachgebrauchs beschäftigt.

sueddeutsche.de: Ich höre in letzter Zeit immer häufiger das Wort "Mädel", von dem ich in der Schule gelernt habe, dass es ein böses Nazi-Wort sei. Sie auch?

Thorsten Eitz: Nein, aber mir ist aufgefallen, dass ein anderes Wort wieder häufiger benutzt wird: Fräulein.

sueddeutsche.de: Beides Verniedlichungen, komisch. Gibt es Worte aus dem Nationalsozialismus, die wir überhaupt nicht mehr gebrauchen sollten?

Eitz: Wir wollen niemandem vorschreiben, dass er bestimmte Worte nicht benutzen darf. Bei "Mädel" weiß auch kaum noch jemand, dass es von den Nazis okkupiert wurde durch den Bund deutscher Mädel. Noch stärker gilt das für das Wort "Arbeitsmaid". Wer es kennt, benutzt es nicht.

sueddeutsche.de: Im "Wörterbuch der Unmenschen" von 1957 war das Wort "Mädel" einer von 28 Begriffen, die nach Ansicht der Autoren aus dem deutschen Sprachschatz gestrichen werden sollten, weil sie den "Wortschatz der Gewaltherrschaft" verkörperten. Es wurde nachher wieder entfernt und die Liste durch andere Worte wie "Auftrag" und "Härte" ergänzt.

Eitz: Die haben damals auch das Wort "Lager" aus dem Sprachgebrauch streichen wollen. Inzwischen haben Sprachwissenschaftler viele Bücher darüber geschrieben, dass das Quatsch ist. "Lager" ist nur in Zusammenhang mit dem Zusatz "Konzentrations-"(Lager) Nazivokabular. Ähnlich ist das übrigens mit dem Terminus "Endlösung", der ebenfalls nur in Zusammenhang mit der "Judenfrage" zu den Nazi-Wörtern zählt, die "Endlösung" alleine war ein völlig üblicher Terminus technicus in der Weimarer Republik. Und selbst als Komplettbegriff "Endlösung der Judenfrage" tauchte er schon viel früher auf, zum Beispiel bei den Deutsch-Völkischen, da waren die Nazis noch nicht mal erfunden.

sueddeutsche.de: Gibt es also Ihrer Ansicht nach gar keine Worte, die fragwürdig, weil nationalsozialistisch besetzt, sind?

Eitz: Es kommt immer darauf an, in welchem Kontext sie benutzt werden. Das ist genau der Punkt, den wir in unserem Buch ("Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung/Die NS-Vergangenheit im öffentlichen Sprachgebrauch"/Thorsten Eitz und Georg Stötzel; Anm. d. Red.) behandeln.

sueddeutsche.de: In welchem Kontext ist es also falsch, den Begriff "Drittes Reich" zu benutzen?

Eitz: Das ist gerade bei diesem Ausdruck sehr interessant. Die Nationalsozialisten haben den Begriff 1926 okkupiert, später aber verboten und durch den Begriff "Tausendjähriges Reich" ersetzt, weil nach dem Dritten ihrer Ansicht nach ja kein "Viertes Reich" mehr kommen sollte. Selbst bei Historikern ist der Ausdruck deshalb umstritten.

sueddeutsche.de: Und wie steht es um die "Reichskristallnacht"?

Eitz: Das ist besonders spannend: Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass die Nazis alles daran setzten, den Begriff zu verbieten. Ursprünglich stammt er wohl aus dem Berliner Volksmund. Ein Zeitzeuge berichtet, der Berliner Kabarettist Werner Fink habe ihn erfunden, wegen der eingeschlagenen Schaufenster der jüdischen Geschäfte, und um den groß geplanten Feldzug der Nationalsozialisten damit lächerlich zu machen. Er soll dafür sogar verhaftet worden sein. Während des Kalten Krieges haben ihn noch alle benutzt: die Kommunisten in der DDR, Westdeutschland parteiübergreifend, und international hatte man sowieso viel weniger Probleme mit der Political Correctness.

sueddeutsche.de: Die waren ja auch weniger nah dran.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, wer am liebsten mit Nazi-Begriffen um sich schmeißt.

Mädel verpflichtet

Eitz: Ja, aber jahrzehntelang war das auch bei uns gar kein Thema. Bewusstsein für die Nazi-Sprache wurde erstmals geschaffen durch den Eichmann-Prozess, dann durch den Auschwitz-Prozess, und schließlich 1979 durch die "Holocaust-Serie" im TV. Der Witz ist aber, dass man dem Begriff "Reichskristallnacht" erst seit den achtziger Jahren eine Belastung zuweist, obwohl er gar nicht von den Nazis genutzt worden ist - im Gegenteil. Erst seit der Rede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger zum 50. Gedenktag der Reichspogromnacht 1988 kippte das Ganze. Inzwischen wird der Begriff in öffentlichen Reden gemieden. Dafür weicht man auf einen Begriff aus, der ebenfalls nicht ganz zutreffend ist, die "Reichspogromnacht". Geht man von der ursprünglichen Bedeutung des Wortes "Pogrom" aus, geht es dabei um etwas Spontanes. Gerade das war ja 1938 eben nicht der Fall, das war von langer Hand geplant.

sueddeutsche.de: Sie würden sich also auch außerhalb des historischen Kontextes kein Wort verbieten?

Eitz: Doch, da gibt es schon ein paar Begriffe. Ich würde zum Beispiel "Sonderbehandlung" nicht benutzen, weil dies eine Tarnbezeichnung der SS für die Ermordung von Menschen war. Da hängt eine ganze Verschleierungsstrategie dahinter, es gab viele "Sonder"-Begriffe.

sueddeutsche.de: Warum dann Ihr Buch, wenn man die meisten Begriffe heute wieder bedenkenlos gebrauchen kann?

Eitz: Uns ist bei der Forschung aufgefallen, dass immer wieder NS-Vokabular zum Thema gemacht wird, dass Nazi-Vergleiche in politischen und öffentlichen Diskussionen stattfinden, und zwar ganz massiv. Die Sprachwissenschaft hat sich zwar ganz gezielt auf die Sprache zur NS-Zeit gestürzt - aber was danach passiert ist, dazu gab es noch gar nichts. Deshalb hat uns auch die Forschungsgemeinschaft bei unserer Arbeit unterstützt.

sueddeutsche.de: Es hat also zugenommen, dass sich Politiker gegenseitig als Nazis beschimpfen?

Eitz: Das ist absolut inflationär. Der NS-Vergleich ist die treffsicherste Variante, öffentliche Aufmerksamkeit zu erzielen. Sowohl die attackierten Gegner als auch Journalisten reagieren reflexartig und empört. So läuft das immer weiter. Vom Pseudo-Autobahn-Vergleich einer Eva Herman bis zu Faruk Sen (Direktor des Zentrums für Türkeistudien in Essen; Anm. d. Red.) und seinem Ausspruch, Türken seien die neuen Juden.

sueddeutsche.de: Wir befinden uns also gerade auf dem Höhepunkt der gegenseitigen Nazi-Beschimpfungen?

Eitz: Das habe ich schon im vergangenen Jahr gedacht. Dann kam aber erst die richtig große Welle.

sueddeutsche.de: Was war für Sie der unangebrachteste Vorfall?

Eitz: Das war neben dem Ausspruch von Faruk Sen Guido Knopp, wie er Tom Cruise mit Goebbels' Rede im Sportpalast vergleicht. Absolut an den Haaren herbeigezogen. Aber es funktioniert immer noch.

sueddeutsche.de: Sie haben vor allem untersucht, welche politischen Lager Nazi-Vokabular in welchem Kontext benutzen. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?

Eitz: Das war absolut erstaunlich: Abgesehen davon, dass das alle machen, sind es vor allem die Gruppierungen, denen man es nicht zugetraut hätte. Die Rechten benutzen solche Ausdrücke gar nicht mehr, sie erfinden Tarnbegriffe, damit der Verfassungsschutz sie in Ruhe lässt.

sueddeutsche.de: Zum Beispiel?

Eitz: Zum Beispiel "Auschwitz-Mythos" statt "Auschwitz-Lüge". Wie schwer das ganze Thema wiegt, sieht man übrigens auch daran, welches Meta-Vokabular sich in unserem Sprachgebrauch rund um das Thema rankt, wie zum Beispiel "verschleiern", "beschönigen", "bagatellisieren", weil Sprache ja ständig im Fluss ist - und wie stark sich die Justiz des Themas annimmt.

sueddeutsche.de: Und welche Gruppierungen sind nun besonders fleißig im Gebrauchen von Nazi-Begriffen?

Eitz: Die katholische Kirche zum Beispiel im Kontext Abtreibung. Da wird Abtreibung als "Kinder-Holocaust" bezeichnet, oder die Abtreibungspille mit der Tötungspille Zyklon B verglichen. Die Erzbischöfe Dyba und Meisner waren da ganz vorne dabei. Oder auch die Umweltbewegung mit ihrem Slogan: "Gorleben ist Holocaust."

sueddeutsche.de: Was ist das Gefährliche daran?

Eitz: Dass diese Gruppen das Thema für sich instrumentalisieren. Weil sie genau wissen, dass es funktioniert.

sueddeutsche.de: Wer also Aufmerksamkeit braucht, greift gezielt auf Nazi-Vokabular und Nazi-Vergleiche zurück, weil das immer klappt?

Eitz: Ja, aber es gibt anscheinend Tendenzen, dass sich das durch den inflationären Gebrauch auch schon wieder abnutzt. Wenn irgendwann jeder mit Hitler verglichen wurde, wird Hitler irgendwann kein böser Mensch mehr sein.

sueddeutsche.de: Ist das auch als Warnung zu verstehen?

Eitz: Absolut. Wenn das Bewusstsein in den Schulen nicht mehr gelehrt wird, sondern nur noch die Fakten tradiert werden, wird sich das nicht bessern. Der Schulunterricht sollte unbedingt wieder mehr Geschichtsbewusstsein schaffen. Wir sehen auch, dass kaum noch Wissen über den Widerstand gegen die Nationalsozialisten bei den heutigen Schülern vorhanden ist - und das, obwohl die Medien massiv über dieses Thema berichten.

sueddeutsche.de: Wenn man mich also demnächst wieder "Mädel" nennt, muss ich mich nicht wundern, weil das unbewusst passiert. Ich sollte es aber Ihnen melden, wenn man mich "Hitler" nennt?

Eitz: Mich würde nur Letzteres stutzig machen.

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