Nationalismus und Nationalstaat:Der "Volksgeist" und seine Monster

Pegida-Kundgebung in Dresden

Eine rechte Sauerei: Ein Teilnehmer einer Pegida-Kundgebung auf dem Altmarkt in Dresden hält ein Stoff-Schwein in die Höhe.

(Foto: dpa)

Großbritannien, Österreich, Polen: Der Nationalismus in Europa wächst. Dabei ist nationalistische Politik im Grunde ein Fremdkörper im Nationalstaat.

Analyse von Andreas Zielcke

Vielleicht wird der Brexit knapp vermieden. Aber schon die "sehr reale Gefahr, dass das Vereinigte Königreich die EU verlassen könnte, zeigt", so der Chefökonom des IWF, Maurice Obstfeld, "den wachsenden Nationalismus in Europa". Hauchdünne Siege verscheuchen die Bedrohung nicht; für Norbert Hofer stimmte fast jeder zweite Österreicher.

Der Nationalismus ist säureresistent geworden

Seit den Wahlerfolgen der AfD haben auch wir den Nationalismus im Land, innerhalb von anderthalb Jahrzehnten ist er in Europa manifest geworden. Schien er vor der Jahrhundertwende nicht politisch erledigt zu sein, ein Thema für Historiker?

Bezeichnend ist Hans-Ulrich Wehlers Feststellung in seinem Buch "Nationalismus" von 2001: Nationalistische Politik befinde sich inzwischen in "einem Säurebad tiefer Skepsis". Nicht dass diese Diagnose überholt wäre, Kritik und Ächtung des Nationalismus sind heute so ätzend wie damals. Doch ihre Wirkung lässt nach, der Nationalismus ist säureresistent geworden. Dass er in der politischen Welt als Schmuddelkind aufwächst, scheint ihm nichts anzuhaben, im Gegenteil. In der Rolle des geschmähten Outlaws gedeiht er erst recht.

Eine "Wahlverwandtschaft" gibt es zwischen Demokratie und Nationalgenossenschaft

Was aber macht ihn zum Fremdkörper im Nationalstaat, der ja in seinem Namen das "Nationale" führt? Eine Überdosis verwandle nationales Bewusstsein, sagt man, in das Gift des Nationalismus. Doch das trifft nicht den Kern. Gegenüber legitimer nationaler Zusammengehörigkeit ist der Nationalismus nicht nur eine "ungesunde" Steigerung, er ist eine andere politische Existenzform.

Um ihr auf den Grund zu gehen, hilft ein Blick in die Gründungsphase moderner Staatswesen im 18. und 19. Jahrhundert, auch wenn niemand bisher zwingend erklären kann, warum fast alle westlichen Länder als Nationalstaaten entstanden. Immerhin aber unterstellte schon Max Weber, dass zwischen Demokratie und Nationalgenossenschaft seit je eine "Wahlverwandtschaft" bestand. Die Antwort auf die Frage wiederum, was die Bürger als nationale Genossen verbindet, sehen viele in Benedict Andersons berühmter Formel der "imaginierten Gemeinschaft". Doch weit kommt man mit ihr nicht.

Unbestreitbar ist zwar, dass sich mit Verfall der Bindung durch traditionelle Weltbilder, Glaubensgefolgschaft und dynastische Herrschaft ein Zugehörigkeitsvakuum auftat, das von bürgerlichen Vorstellungen einer territorialen Gemeinschaft gefüllt werden konnte. Aber die Annahme einer solchen kollektiven "Erfindung der Nation" besagt wenig über die Ausrichtung und Intensität, ja auch nur über den Gehalt des gemeinsamen Nationalbewusstseins.

Der Nationalstaat als Antwort auf fundamentale Krisen

Ertragreicher ist es, den Nationalstaat als Antwort auf fundamentale Mentalitäts- und Modernisierungskrisen zu deuten - Krisen, denen die bornierte ständische Privilegienherrschaft nicht mehr gewachsen war. Mögen die industriellen Herausforderungen den letzten Anstoß gegeben haben, jedenfalls bot sich - idealtypisch - als neue Organisationsform ein zentralisiertes, mit administrativer Rationalität steuerndes Staatsgebilde an, dessen Bewohner durch gemeinsame Sprache, Relevanzkriterien, Interessen und Engagements am selben Strang ziehen. Territorialstaaten hat schon der Absolutismus entwickelt, zu politischen Gemeinwesen aber, die sich selbst als genossenschaftlich geformte Akteure sehen, wurden sie erst als Nationalstaat.

Trotz Max Webers These der Affinität von Demokratie und Nationalstaat sind, wie man weiß, längst nicht alle Nationalstaaten demokratisch. Doch der Zusammenhalt, den autokratische Regime durch Repression erzwingen, muss unter demokratischen Bedingungen spontan und habituell funktionieren, wie stark auch immer institutionell abgestützt. Noch revolutionärer als die Rationalisierung des Staats ist daher die zwanglose Eingemeindung der Bürgerschaft. Denn nun sind rechtliche Liberalität und kommunitäre Loyalität unter einen Hut zu bringen.

Gemeinsame Sache machen

Historisch genügte es nicht, die ehemaligen Untertanen in freie Rechtspersonen umzuwandeln, obwohl dies die normative Basis der neuen Gemeinschaft ist. Hinzukommen musste die Zuversicht, dass man gemeinsame Sache macht. Grundlage dafür war eine historisch neuartige Unterstellung: Mag man sich landesweit, jenseits der Familien- und Dorfgrenzen, auch fremd sein, ähnelt man sich dennoch in Vorverständnis, Gepflogenheiten, Sichtweisen, Sinnes- und Lebensart hinreichend genug, um ein stabiles gemeinsames "Regelvertrauen" auszubilden.

Erst unter der Prämisse eines solchen Vertrauens überantwortet man einander das "Gemeinwohl", solidarisiert sich mit all diesen Unbekannten im Lande und erschließt mit ihnen kollektive Ziele für eine jetzt offen gewordene Zukunft.

Überhaupt ist die Bedeutung des modernen Verständnisses von Zeit für das Entstehen des Nationalstaats kaum zu überschätzen. Statt des einst mehr oder weniger geschlossenen Zeitraums dominiert jetzt die Vorstellung einer nach vorne gerichteten Zeitachse. Jede politische Entscheidung öffnet oder verschließt jetzt Zukunftsoptionen, stets ist es eine Richtungsentscheidung. Demokratischer Nationalstaat ist, so gesehen, ein Konzept zur konzertierten Bewältigung politisch riskanter Evolution.

Nationalisten radikalisieren die "prästabilisierte Harmonie" einer Gesellschaft

Unter allen politischen Konstruktionen der Moderne gehört die Unterstellung einer mentalen Kongruenz, die ein Grundvertrauen auch in prekäre Richtungsentscheidungen erlaubt, gewiss zu den wirksamsten. Sie ist weit mehr als nur pure Imagination, sie ist Einbildung, reale Erfahrung und selbsterfüllende Prophezeiung in einem - wie stets bei Vertrauen.

Der Wahn nationaler Einheit

Zweifellos hat dieses Regelvertrauen innerstaatliche Loyalität in einem Ausmaß ermöglicht, das bis dato undenkbar war. Zweifellos aber barg das Sich-Verlassen auf tragfähige Homogenität von Anfang an die Gefahr, dass sie in den Wahn nationaler Einheit umschlägt.

Kein Nationalstaat, der dieser Ambivalenz entkäme. Exemplarisch ist, wie sich auf der einen Seite vor allem bei Briten, Amerikanern und Franzosen der Stolz auf die revolutionäre Selbstschöpfung der Nation hält, als habe man sie aus dem historischen Nichts erschaffen; Frankreich stellte im ersten revolutionären Elan sogar den Kalender auf Null. Auf der anderen Seite setzte überall sogleich die Beschwörung einer angeblich auf das große Ereignis zulaufenden Vergangenheit ein. Freie nationale Selbsterzeugung und vorbestimmende Geschichte, das passt nicht zusammen. Doch der Widerspruch hat seine Logik.

Denn alles, was durch Vergangenheit bestimmt ist - Herkunft, Sprache, Ethnie, kulturelle Formen, Religion -, gilt als dem freien Willen entzogen. Erst durch diese immer schon vorgeprägte Konvergenz der Einzelwillen scheint es erträglich, sich dem Mehrheitswillen auszuliefern. Es ist die Ideologie eines unschuldigen, weil historisch vorgegebenen Konformismus.

Zwischen dem Gestern und Morgen der Nation

Nationalisten radikalisieren diese (frei nach Leibniz) "prästabilisierte Harmonie": Je umfassender man die Bürger auf die Verbindlichkeit der - patriotisch mystifizierten - Vergangenheit verpflichtet, desto stärker ist Zukunft vorgeschrieben.

Wer hätte je zuvor gedacht, dass sich Geschichte derart erfolgreich instrumentalisieren lässt, um die politische Freiheit einer Gesellschaft zu disziplinieren, die sich der Zukunft zuwendet? Wer aus dem Gestern der Nation ausschert, verrät das gemeinsame Morgen, das ist die nationalistische Parole, genauer gesagt das Damoklesschwert über jedem Abweichler.

Aber natürlich ist der Umgang mit Abweichlern in einem Nationalstaat nicht nur ein Problem für Nationalisten. So tief das Bedürfnis nach einem allseits geteilten Regelvertrauen ist, so normal ist Dissens, Widerspruch und Konflikt. Für den Umgang mit Abweichung könnte man daher zwei Skalen aufstellen:

Die eine Skala reiht alle Reaktionsstufen auf von inklusionsbewahrenden Formen bis zu immer schärferen Ausschlusstechniken, also von Tadel und Kritik über Misstrauen, Feindseligkeit, Diffamierung bis Ausgrenzung und Verfolgung.

Die andere Skala bildet die Größe der Toleranzspielräume der Nationen ab. Auf dieser Skala finden sich weiter oben die Nationen, deren Gemeinschaftsgeist höhere Grade von Opposition und Alternativen zulässt. Je höher auf der Skala, desto mehr vom Mainstream abweichende Fallgruppen schließt das Gleichheitsprinzip ein.

Entthronung des Rechts bedeutet nicht die Entfesselung der Freiheit, sondern ihre Auflösung

Nationalismus nimmt die Position auf der zweiten Skala weit unten ein, kombiniert mit der Position auf der ersten Skala weit oben: Rückfall auf Stufen enger Homogenitätserwartung, scharfe Reaktion gegen Abweichler.

Vollends fatal aber wird der Nationalismus, wenn er die Exklusion auf die Spitze treibt bis zur Entrechtung. Der irreversible Schritt dorthin ist getan, wenn die Rechtsgemeinschaft der Nation ersetzt wird durch Volksgemeinschaft. Kommt es hart auf hart, darf die Offenheit des Rechts der Geschlossenheit des Volks nicht im Wege stehen. "Recht ist eine wichtige Sache, aber kein Heiligtum, wir dürfen es verletzen", sagte ein Mitglied der Regierungspartei im polnischen Parlament. "Über dem Recht steht das Wohl des Volkes!"

Auch wenn viele Nationalisten ein so unverblümtes Bekenntnis noch scheuen, offenbart es die Konsequenz ihrer Einheitsobsession. Für eine Demokratie gibt es nichts Gefährlicheres. Entthronung des Rechts bedeutet nicht die Entfesselung der Freiheit, sondern ihre Auflösung. Freiheit existiert nur als Rechtsgarantie, als Garantie auf Dissens und Eigensinn. Ohne diese Garantie gebiert der "Volksgeist" Monster.

Nationalisten sehen sich selbst als Retter in der Not

Nicht zufällig gaben sich die amerikanischen und die französischen Revolutions-, sprich: Volksmassen zuallererst eine Verfassung, um sich gegenseitig ein für allemal ihren Rechtsstatus zuzusichern. In der US-Verfassung taucht der Begriff "Nation" nirgends auf, bis heute versteht man dort unter "nation" den Staat; "nation building" meint "state building". Und viele Länder bestehen wie Großbritannien oder die Schweiz ohnehin aus verschiedenen "Nationen". Nationalstaat kann hier schon deshalb nur einen rechtlichen Zusammenschluss bedeuten.

Vielleicht wäre alles halb so wild, wären Nationalisten nur gestrig. Doch sie sehen sich unüberbietbar legitimiert, als Retter in der Not. Entmündigung durch die EU, die "Flüchtlingsflut", der Islam, die Auflösung der Familie, alles stürzt die Nation in höchste Gefahr. Da das politische und mediale System nicht bereit ist, sich grundlegend zu korrigieren, ist Widerstand angesagt, wenn nicht Aufstand - alles zur Rettung der "nationalen Identität".

Eifer geht über Realitätssinn

Nirgends zeigt sich klarer als in diesem unseligen Begriff, wie sehr Eifer über Realitätssinn geht. Alle bürgerlichen Revolutionen kämpften für nationale Selbstbestimmung, nicht für nationale Identität. Mit gutem Grund. Jede Nation ist - als stets vorläufiges Produkt ihrer Geschichte, Grenzveränderungen, Konflikte und Wandlungen - nicht von einer Identität, sondern von multiplen Identitäten geprägt.

Trotzdem oder vermutlich gerade deshalb kann sie robustes Regelvertrauen ausbilden, vorausgesetzt, es ist offen, flexibel und belastbar zugleich. Das ist einfacher gesagt als getan, aber zumindest die gefestigten Nachkriegsdemokratien machen vor, wie man Verflüssigung stabilisiert.

Offenbar verfügen sie über hinreichende Schnittmengen ihrer kulturellen und politischen Mentalitäten, offenbar sind ihre diversen Lebenswelten untereinander anschlussfähig, offenbar vertragen sich trotz aller Konflikte ihre sozialen Sensibilitäten und Arbeitsethiken, und offenbar sind ihre Institutionen auch unter Wandlungsdruck leistungsfähig genug. Jede Nation integriert ihre Vielfalt auf eigene Weise. Das macht ihre Besonderheit aus, und die gilt es vor Nationalisten zu schützen.

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