Nahostkonflikt:"Israel sollte die Stadt vollumfassend annektieren"

A general view of the Dome of the Rock in the Old City of Jerusalem December 4 2017 Palestinian

Blick über Jerusalem mit der Altstadt und dem Felsendom im Zentrum

(Foto: imago/UPI Photo)

Der palästinensische Künstler Ali Qleibo lebt in Jerusalem als Bürger zweiter Klasse, wenn auch mit mehr Wohlstand als früher. Ein Gespräch über Lebenslügen - unter Palästinensern und Israelis.

Interview von Moritz Baumstieger

Ein Federstrich - und ein ganzes Volk verliert die Hoffnung auf einen eigenen Staat: Das ist die Konsequenz aus der Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch US-Präsident Donald Trump. Der palästinensische Künstler und Schriftsteller Ali Qleibo lebt und unterrichtet im Ostteil der Stadt. Im Interview entlarvt er Selbstbetrug und Lebenslügen - bei Israelis und Palästinensern.

SZ: Wie würden Sie Jerusalem malen?

Ali Qleibo: Die Heilige Stadt verändert sich nicht. Der goldene Felsendom und die Kuppel der Grabeskirche, die Glockentürme, Minarette im christlichen und muslimischen Viertel zeugen vom arabischen Charakter von Al-Quds. Das Bild der Erhabenheit bleibt, nur der Diskurs über die neuen Tatsachen am Boden hat sich verändert.

Was genau ist geschehen?

Die Israelis verweigern sich der Realität. Sie leugnen die palästinensische Rolle in dieser Stadt, sie erkennen unser tief verwurzeltes kulturelles Erbe nicht an. Durch die Besatzung hat sich Israel den Boden, die Flora und die Fauna angeeignet und auch das arabische christlich-muslimische Erbe. Die indigenen Einwohner wurden zu gerade noch geduldeten Fremden. Und diese Verleugnung hat nun der mächtigste internationale Spieler offiziell übernommen, der amerikanische Präsident.

Nahostkonflikt: Ali Qleibo, geboren 1953 in Jerusalem, ist Anthropologe, Künstler und Schriftsteller sowie Dozent an der Al-Quds-Universität. Auf Deutsch ist von ihm erschienen: "Wenn die Berge verschwinden" (Palmyra-Verlag).

Ali Qleibo, geboren 1953 in Jerusalem, ist Anthropologe, Künstler und Schriftsteller sowie Dozent an der Al-Quds-Universität. Auf Deutsch ist von ihm erschienen: "Wenn die Berge verschwinden" (Palmyra-Verlag).

(Foto: oh)

Würden Sie Jerusalem also in düsteren Farben zeichnen?

Nein. Ich stamme aus einer Patrizierfamilie, deren Geschichte hier seit dem siebten Jahrhundert verbürgt ist. Meine Vision dieser Stadt lasse ich nicht durch politische Widerwärtigkeiten beeinflussen.

Nach Trumps Entscheidung war ein Aufstand angekündigt. Doch es blieb vergleichsweise ruhig. Warum?

Für meine Generation war diese Entwicklung keine Überraschung. Seit PLO-Chef Jassir Arafat von den Verhandlungen mit Israel in Oslo heimgekehrt war, wussten wir, dass dies passieren würde - er hatte in der Jerusalem-Frage nichts erreicht. Trumps Amtsvorgänger haben die längst getroffene Jerusalem-Entscheidung mit Dekreten aufgeschoben. Jeder Palästinenser, der es wissen wollte, wusste das.

Sie unterrichten an der Al-Quds-Universität im Ostteil der Stadt. Ist die Jugend dort ebenso fatalistisch?

Wir meiden das Thema. Wenn wir palästinensischen Einwohner ehrlich darüber sprechen würden, müssten wir zugeben, wie sehr uns 50 Jahre Besatzung verändert haben. Wir streben nach BMWs und Grundbesitz. Ray-Ban-Brillen und Ralph-Lauren-Shirts sind für manche ein Lebensinhalt. Wir haben in Jerusalem zwar keinen definierten Status als Bürger, aber israelische Dokumente, die uns Reisen in die Türkei oder nach Mekka erlauben. Viele Familien haben in drei Generationen den Sprung aus der Armut in die Mittelklasse geschafft. Fast keiner würde all das für das nationalistische Ideal Palästinas aufgeben wollen. Wir leben in einer Realitätsverweigerung, genau wie die Israelis.

Also ist die Forderung nach Jerusalem als Hauptstadt Palästinas nur Folklore?

Völkerrechtlich ist und bleibt Jerusalem eine besetzte Stadt. Gleichzeitig würde ich aber sogar in den palästinensischen Medien zensiert, wenn ich als Anthropologe die Realität beschreibe: Jerusalem als prosperierende, multikulturelle Stadt, in der sich der individualistische Konsum-Lifestyle durchgesetzt hat.

"Die palästinensischen Politiker scheren sich nicht um die Stadt"

Das würden palästinensische Politiker bestreiten.

Die palästinensischen Politiker scheren sich nicht um die Stadt, der sie in ihrer Rhetorik so überragende Bedeutung einräumen. Nach 50 Jahren Besatzung wollen sie uns immer noch verbieten, uns in der Stadtverwaltung zu engagieren. Das würde eine Anerkennung der Besatzung bedeuten, sagen sie, was ja auch stimmt. Aber welche Alternativen bieten sie? Die Probleme bei der Bildung und der Müllentsorgung bleiben ungelöst. Auf dem Papier sind wir weder Israelis noch Palästinenser. Trump zementiert diesen Status: Er erkennt weder unsere Existenz an noch unsere Rechte in der Stadt unserer Ahnen. So verurteilt er uns dazu, ewig in dieser Vorhölle zu schmoren.

Warum blieb der Protest aus den arabischen Staaten so kraftlos?

Die Region ist in Aufruhr. Ägypten ist mit sich selbst beschäftigt. Saudi-Arabien will mit seiner wahhabitischen Interpretation den Islam dominieren, dafür ist Jerusalem mit all seiner Mystik eine Bedrohung. Deshalb hat Riad nichts dagegen, wenn die drittheiligste Stadt des Islam, dieser Pilgerort, der offen ist für Strömungen wie den Sufismus, abgewertet wird.

Israel beansprucht Jerusalem als ewige, unteilbare Hauptstadt. Wie steht es um diese proklamierte Einheit im Alltag?

Adnan al-Husseini ist der von Ramallah ernannte symbolische arabische Gouverneur der Stadt - der faktische israelische Bürgermeister Nir Barkat hat wahrscheinlich noch nie von ihm gehört. Aber es gibt viel mehr Koexistenz, als irgendwer zugeben möchte. Wenn Sie all die gut aussehenden jungen Leute in den Einkaufszentren sehen, werden Sie kaum sagen können, wer Palästinenser ist und wer Israeli. In jeder Restaurantküche Jerusalems ist das Personal arabisch. Nur die Kellner sind im Westteil jüdisch, um den koscheren Schein zu wahren. Das fasst die Situation der Araber gut zusammen: Du kannst in jedem Sektor arbeiten, aber nicht in jeder Position. Und wie beim Küchenpersonal wird die jüdische Mehrheit deine Existenz leugnen, wann immer es möglich ist.

Was soll nun werden aus Jerusalem?

Ich sehe nur einen Weg: Israel sollte die Stadt vollumfassend annektieren - das hat es nämlich entgegen seiner eigenen Darstellung nicht getan. Eine wirkliche volle Annexion würde die gleichen Bürgerrechte für die Menschen in Ostjerusalem bedeuten, die seit dem Oslo-Abkommen in einem schwarzen Loch leben. Aber ich bin nicht sehr optimistisch.Die Palästinenser müssten zugeben, einem schönen, aber unrealistischen Traum nachgehangen zu haben. Es wäre Zeit, den palästinensischen Kampf als Bürgerrechtsbewegung fortzuführen. Und die Israelis müssten uns als Volk mit einer Geschichte und einzigartigen Identität anerkennen. Aber sie wollen nur das Land, nicht die Menschen. So versuchen sie, unseren Boden und unser Erbe legalistisch in Gerichtssälen und Büros zu bekommen. Das ist leise. Und es ist sehr effizient.

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