Nacktheit in der Kunst:Nackt, wie das Waxing-Studio sie schuf

Schwänzchen in die Höh' als Kunst-Performance - das taugt nicht mehr als Skandal. Die wahren Schocker der Körperinszenierung liefert heute der "Playboy".

Von Gerhard Matzig

"Peniskunst an der Alster" - das ist die Schlagzeile der Hamburger Morgenpost. Wozu der Mopo noch ein Kinderlied einfällt: "Köpfchen in die Erde, Schwänzchen ..." Man kann also nicht sagen, dass der russische Aktionskünstler Andrey Kuzkin, der sich am Sonntag nahe der Hamburger Binnenalster nackt mit dem Oberkörper in die Erde eingegraben hat, sodass nur noch Beine, Po, Arme, Bauch und, hm, ja, das Schwänzchen herausschauten, nichts provoziert hätte. Aber für einen ordentlichen Skandal, Polizei und verstörte Menschenmengen hat es nicht gereicht. Nur für ein Kinderlied.

Dabei wollte der 35-jährige Künstler aus Moskau, der während seiner halbstündigen Performance durch einen Schlauch mit Luft versorgt wurde und anschließend als erstes einen Wodka kippte, die Öffentlichkeit eher aufrütteln. Schockieren. Und, genau: Sehgewohnheiten unterlaufen. All das eben, was die zeitgenössische Nacktperformance so zu tun hat. Aber sein artifizieller Nudismus, zugleich Auftakt des Nordwind-Festivals in der Kulturfabrik Kampnagel (das noch bis kommenden Samstag geht), konnte nicht einmal den Boulevard empören oder gar erregen. Es gibt einfach schon zu viel Nacktheit. Sich in der Öffentlichkeit nackt zu präsentieren, ist daher auch weniger eine Kunst - als vielmehr dies: langweilig.

Kuzkin hatte sich vor Hamburg schon 43 mal unten (beziehungsweise im Laufe der Performance: oben) ohne verbuddelt. In aller Welt. Manchmal sind auch nackte Frauen dabei, die dann aber weniger an Kinderreime denken lassen, sondern nur daran erinnern, dass verkehrt herum eingegrabene nackte Männer weniger ästhetisch rüberkommen als verkehrt herum eingegrabene Frauen. Doch das ist nicht das Problem. Das Problem ist: Was wollen uns eigentlich all die Nacktperformer mitteilen? Dass sie nackt sind? Oder soll es nur heißen: "Guckt mal, wir sind viele."

Nackt im Wald, nackt vor der Kunstmesse, nackt im Museum

Stimmt, denn die Nacktkunst ist mittlerweile eine Massenbewegung. Nackt im Wald, nackt vor der Kunstmesse, nackt im Museum - gab es alles schon. Die britische Künstlerin Poppy Jackson stieg Anfang des Monats an zwei aufeinanderfolgenden Tagen jeweils für vier Stunden auf das Dach der Toynsbee Studios in London, um sich rittlings - und klar: nackt - auf den First zu setzen. Zuvor hatte sie auf diese Weise Kunstsex mit dem Dachfirst einer Scheune in New York. Das Kunstmagazin Monopol meint dazu: "Der Grenzübertritt 'Unbekleidet in der Öffentlichkeit' erzeugt einen Skandalwert, der den künstlerischen Wert überdeckt."

Das gilt auch für die Schweizer Performancekünstlerin Milo Moiré, die sich üblicherweise vor den Eingängen zu Kunstmessen auszieht. Manchmal ist sie auch bekleidet - wenn auch nur mit etwas Filzstift. Dann ist auf ihrem schönen Körper an den passenden Stellen zu lesen: Bra, Shirt, Jacket, Panties. Das ist eine wertvolle Information für all jene Menschen, die gar nicht mehr wissen, wie und wo Frauen, die ausnahmsweise nicht nackt sind, ihre Kleidungsstücke tragen.

"Hairy" bezeichnet heute einen pornogafischen Fachbegriff

Manche von denen versammelt der amerikanische Fotograf Spencer Tunick zu Hunderten an verschiedenen städtischen Plätzen nackt als "ikonografische Symbole". Dabei entstehen Bilder voller Menschen, die einfach nur das sind, was sie in den zunehmend um sich greifenden Saunalandschaften einer sich zu Tode wellnessierenden Gesellschaft in aller Regel auch sind: nackt, wie das Waxing-Studio sie schuf. Oder wenigstens im Fastganztotalnackt-Style "Brazilian". Allerletzte Reste der Scham gibt es auch heute noch, da der Begriff "Hairy" keinen Naturzustand, sondern einen pornografischen Fachbegriff bezeichnet.

'Nackte' Installation vor Opernhaus in Sydney

5000 nackte Menschen posieren für Spencer Tunick vor dem Sydney Opera House. Das Ganze nennt sich dann "Mardi Gras: The Base" - warum auch immer.

(Foto: Dean Lewins/dpa)

Eigentlich fragt nur noch das Bieler Tagblatt angesichts des Schweizer "Body and Freedom Festivals" staunend: "Und das soll Kunst sein?" Dutzende Nackte regelmäßig in der Stadt - na und? Im Internet gibt es ein Video dazu: Ein Nacktperformer hüpft durch die Fußgängerzone und eine "Rentnerin", Hermine Ringger, wird dazu befragt, in der Hoffnung, sie möge sich bitteschön empören über den Nudisten. Sie guckt kurz hin, lächelt und sagt: "Toller Bursch!" Immerhin.

Seit Gustave Courbet mit seinem im Jahr 1886 gemalten Bild "Der Ursprung der Welt" ein gewaltiges Skandalon schuf, ist das explizit Nackte jenseits aller Erotik. Das Gemälde zeigt in aller grandiosen Detailgenauigkeit eine Vulva, die - es ist das Ende des 19. Jahrhunderts - vom "Landing Strip" noch ein paar Flugjahre entfernt ist. Von der zur Vulva gehörenden Frau ist übrigens, siehe analog dazu der eingegrabene Nackte von Hamburg, auch nicht viel zu sehen.

Wir verneigen uns, ganz unironisch tief, vor dem Playboy

Der erste Besitzer des Courbet-Werks, der türkische Diplomat und Kunstsammler Khalil Bey, hielt es versteckt hinter einem grünen Vorhang. Nur ausgewählten Gästen wurde es gezeigt. Seither ist viel passiert: Die sexuelle Revolution ereignete sich, die Pornografie breitete sich aus wie eine Pandemie und Miley Cyrus schenkt ihren Instagram-Followern ein Nacktselfie nach dem anderen, was schon deshalb nicht weiter auffällt, weil alle anderen Stars und Sternchen auch Nacktselfies herumposten. Nebenher bemerkt: Die, die es nicht tun, das Posten der Posen, werden gehackt. Und nun also: die Nacktperformance. Es ist ermüdend.

Die letzte große Kunstaktion im Zusammenhang mit nackten Tatsachen verdanken wir, und dafür verneigen wir uns, ganz unironisch tief, ausgerechnet dem Playboy. Der gab jüngst bekannt, dass er die Nackten künftig wieder bekleiden möchte. Denn wenn alle nackt seien, dann könne man mit Nacktheit nun mal nicht mehr punkten.

Das müssten jetzt nur noch die Nacktkünstler begreifen. Dann ist der große Tag nicht mehr fern, da uns - wir sind dann alle grundsätzlich immer nackt - mitten in der Stadt ein vollständig bekleideter Mensch begegnen wird. Wir werden das für einen unfassbaren Skandal halten. Wir werden geschockt sein. Und heimlich werden wir die Textilperformance ziemlich erregend finden.

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